„Braunschweigische Identität bedeutet Tradition und Fortschritt zugleich“
Oberbürgermeister Ulrich Markurth spricht im Interview mit dem „Löwen“ über die Regionsdebatte, die Bedeutung von Heimat und die hiesige Stiftungslandschaft.
Steht die starke Braunschweigische Identität dem Regionsgedanken im Weg? Braunschweigs Oberbürgermeister Ulrich Markurth, seit dem 1. Juli 2014 als Nachfolger von Dr. Gert Hoffmann im Amt, glaubt das im Interview mit dem Portal der Braunschweigischen Stiftungen „Der Löwe“ nicht. Einerseits würden alle lokalen Identitäten in einer verfassten Region weiterleben, und zum anderen gäbe es in in jeder parlamentarischen Abbildung eine Mehrheit gegen rein Braunschweiger Interessen. Unter dem Begriff des Braunschweigischen könnten sich zudem weit mehr Menschen in der Region versammeln als nur jene aus der Stadt Braunschweig. Das Thema müsse sein, den Mehrwert einer Region für alle deutlich zu machen. „Wenn wir da schlüssige Antworten finden, dann bin ich sehr sicher, dass die Menschen mitmachen werden“, sagte Markurth.
Welche Bedeutung hat es für Sie, Oberbürgermeister in der Geburtsstadt geworden zu sein?
Für mich stand vorab die Überlegung: „Will ich das überhaupt? Und wenn ja, will ich das in meiner Stadt?“ Ich hatte zuvor einige andere Angebote, auch aus anderen sehr schönen Städten, habe mir die auch angeguckt und bin immer zu dem Ergebnis gekommen: „Nein, hier nicht.“ Wenn überhaupt so ein stressiger Job, dann geht das nur in einer Stadt, dann geht das nur in meiner Stadt, dann geht das nur in Braunschweig. Natürlich bin ich auch sehr stolz , dass ich in dieser Stadt Oberbürgermeister sein darf.
Was ist für Sie persönlich Braunschweigische Identität?
Ich versuche das an den Dingen festzumachen, die Braunschweig im Moment ausmachen und die identitätsstiftend für die Menschen hier sind. Und das ist diese besondere Mischung aus Tradition und Fortschritt. Wir sind einerseits eine traditionsreiche Stadt, eine große Kulturstadt. Darauf können wir Braunschweiger mit Stolz verweisen. Und wir sind anderseits eben auch eine Stadt, die großes Potential für die Zukunft besitzt. Wir sind Mittelpunkt der größten Forschungsregion in Europa; hier spielt der Forschungsflughafen eine ganz wichtige Rolle, weil man da sehen kann, wie dynamisch Braunschweig sich entwickelt. Und dieser Spannungsbogen, der ist für mich der Grund zu sagen: Braunschweig ist eine ganz tolle Stadt, sie hat ein starkes Fundament.
Diese Braunschweigische Identität – was macht die mit den Menschen, die in dieser Stadt leben?
Ich höre immer wieder von Menschen, die zu uns gekommen sind, dass sie anfangs ein diffuses Bild von unserer Stadt und unserer Region hatten. Und dann, erzählen sie, hätten sie schnell eine emotionale Bindung zu Braunschweig entwickelt. Braunschweig ist über 1000 Jahre gewachsen und hat eine entsprechende Tradition. Das ist ja nicht alles nur verstaubt und von gestern, sondern die Kulturszene ist gewachsen und sehr lebendig. Dazu kommt der Dreiklang aus Forschung, Entwicklung und Modernität. Das bildet sich mittlerweile auch im Stadtbild immer deutlicher ab. Die Menschen hier können sehr selbstbewusst durch ihre Stadt laufen und sich zu ihr bekennen. Es gab früher viel weniger, wovon man sagen konnte, das ist Braunschweig – die Eintracht war da immer eine große Ausnahme. Mittlerweile haben wir eine Geschichte zu erzählen, und ich finde, diese Geschichte ist richtig gut.
Ist lokale Identität in einem Europa der Regionen nicht ein bisschen kleinkariert?
Ich glaube das gerade nicht. Ich würde sogar über Europa noch hinausgehen. Das ganze Thema der Globalisierung öffnet uns einerseits die Welt , macht es uns andererseits aber auch immer schwieriger über einen Ort zu sagen: „Hier bin ich zu Hause“. Die Globalisierung können wir nicht beherrschen, sie macht auch Angst. Da braucht es einen Ruhepol. Wenn ich es belegen sollte mit einem Begriff, dann würde ich sogar von Heimat sprechen. Dieses Gefühl: „Hier kenne ich Menschen, hier kenne ich mich aus hier fühle ich mich sicher“, das ist wichtig. Diese Identität ist eine Voraussetzung dafür, dass wir in der Lage sein werden, europaweit oder globalisiert in dieser Welt eine Rolle zu spielen. Hätten wir in Braunschweig diesen Anker nicht, verlören wir uns ganz schnell in der Beliebigkeit.
Steht diese starke Braunschweigische Identität dem Regionsgedanken im Weg?
Zunächst ist das Braunschweigische ja ein großer Teil dieser Region. Aber der heutige Lebens- und Wirtschaftsraum, den wir als Region bezeichnen und der politisch abgebildet wird durch den Zweckverband Großraum Braunschweig, ist ein bisschen größer als das, was früher Braunschweiger Land war, Herzogtum oder Freistaat. Das geht insbesondere im Bereich Gifhorn und in Teilen von Wolfsburg darüber hinaus. Es ist schon so, dass das Braunschweigische für viele Menschen auch dort identitätsstiftend ist. Wir werden es spätestens dann merken, wenn es mal zu einer Abstimmung über einen Regionsnamen kommen sollte, dass insbesondere diejenigen, die in den klassischen Braunschweiger Landen leben, also in Wolfenbüttel, teilweise in Helmstedt, sich durchaus auch als Braunschweiger fühlen. Ich gehe damit im Moment sehr vorsichtig um, glaube aber, dass es bei dem Thema ganz wichtig ist, auch ein bisschen lokal- oder regionalpatriotisch zu denken. Und ich glaube, dass die Industriestädte Salzgitter und Wolfsburg all das hervorragend ergänzen.
Spüren Sie in Salzgitter und Wolfsburg eigene Identitäten neben dem Braunschweigischen?
Ich habe mit Interesse vernommen, dass das in Wolfsburg zunimmt. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Zufriedenheit auch der jungen Wolfsburger mit ihrer Stadt wächst. Die Stadt ist wesentlich attraktiver geworden. Sie hat auch die finanziellen Möglichkeiten, diese Attraktivität weiter auszubauen. Diese Möglichkeiten hat Salzgitter so nicht. Salzgitter ist zudem eine zusammengesetzte Stadt aus mehreren Stadtteilen. Da liegt die Identifikation der Menschen eher in Gebhardshagen, Thiede, Lebenstedt oder Bad. Insgesamt betrachtet müssen wir den Mehrwert einer Region und das Verbindende herausstreichen. Kein Wolfsburger, Salzgitteraner, Helmstedter, Wolfenbütteler, Gifhorner, Peiner oder Harzer müsste seine eigene Identität aufgeben.
Sind die Menschen bei der Region nicht viel weiter als die Politik, leben sie die nicht längst jenseits der politischen Grenzen?
Die politischen Grenzen sind ja kein Selbstzweck. Sie sind dafür da, dass man die Lebensverhältnisse der Menschen optimal organisiert. Wir sehen gerade, wie das im Landkreis Helmstedt an Grenzen stößt. Von daher wird es Veränderungen geben, geben müssen. Und wir müssen jetzt darauf achten, dass Veränderungen tatsächlich zu besseren Lebensbedingungen führen.
Bei der ganzen Debatte wird häufig unterstellt, wir Braunschweiger wollten alles an uns ziehen. Wenn man das mal ganz nüchtern betrachtet, ist das gar nicht möglich. Wir haben ja nur ein Viertel der Einwohner und jede wie immer auch konkret ausgestaltete parlamentarische Abbildung wäre in der Lage, die Braunschweiger Stimmen auszuhebeln. Das Thema darf nicht sein, ob in einer gemeinsamen Region nun die Braunschweiger gegenüber den Wolfsburgern obsiegen oder umgekehrt. Das Thema muss sein, was den Mehrwert für die gesamte Region ausmacht. Wenn wir da schlüssige Antworten finden, dann bin ich sehr sicher, dass die Menschen mitmachen werden. Dann ist es ihnen in der Tat egal, wo Stadt-, Landkreis- oder Gesamtgemeindegrenzen tatsächlich genau verlaufen..
Das Braunschweigische und die Stadt Braunschweig weisen eine reiche Stiftungslandschaft auf. Welche Bedeutung messen Sie den Stiftungen zu?
Viele Projekte, viele Verbesserungen, die wir angegangen sind, wären ohne Stiftungen wie der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, der Richard Borek Stiftung oder der Braunschweigischen Stiftung, der früheren STIFTUNG NORD/LB • ÖFFENTLICHE, gar nicht möglich gewesen. Wir hätten das mit unserem Steueraufkommen allein nicht geschafft. Und es geht auch noch um etwas anderes. Nämlich um die Frage: Wer unterstützt eigentlich welche Projekte? Wer unterstützt welche Ziele? Wer generiert vielleicht auch noch neue Projektideen? Also: Welche gesellschaftlichen Akteure gibt es? Das waren früher stärker Verbände, Vereine, Kammern und ähnliches. Heute sind das, zunehmend im vergangenen Jahrzehnt, Stiftungen.
Haben Sie besonders gelungene Beispiele?
Es gibt ja neben den kommunal Verantwortlichen viele gesellschaftliche Kräfte, die sich Gedanken machen, die Ideen haben. Wenn man das gut miteinander verknüpft, dann kann man eine langfristige Strategie entwickeln. Das Hospiz in Braunschweig wäre ohne die Hospiz Stiftung für Braunschweig nicht in diesem Tempo realisierbar gewesen. Das Hospiz ist ein Standbein in unserer Gesundheitslandschaft, und aus Stadt und Region gar nicht mehr wegzudenken. Als weiteres Beispiel nenne ich die Gestaltung unserer Parklandschaft, bei der die Richard Borek Stiftung die Stadt maßgeblich unterstützt. Nach Prinzenpark, Museumspark und Theaterpark nehmen wir uns jetzt den Bürgerpark vor. Das ist das nächste große Projekt, bei dem wir sowohl mit Stiftungsgeldern etwas tun wollen, aber natürlich auch mit erheblichen kommunalen Mitteln.. Und ohne die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz wären viele große Kulturprojekte gar nicht denkbar. Auch die Volkswagenhalle wäre ohne die Unterstützung von Stiftungen bestenfalls viele Jahre später und nicht in dieser Dimension realisiert worden. Das sind Beispiele dafür, bei denen der Braunschweiger Bevölkerung sehr schnell klar geworden ist, wie Stiftungen Gutes für die Stadtgesellschaft bewirken. Wenn es gelingt, immer transparent zu halten, was mit Stiftungsgeldern passiert, dann können Stiftungen eine herausragende Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen. Erwähnung in dem Zusammenhang sollte übrigens auch die Bürgerstiftung Braunschweig finden, denn sie sammelt eben zweierlei ein – einerseits Geld und andererseits bürgerschaftliches Engagement. Auch sie ist mittlerweile ein Aushängeschild für unsere Stadt.
Wird die Bedeutung von Stiftungen angesichts schrumpfender Kommunalfinanzen und des demografischen Wandels in Zukunft wachsen?
Das ist schwer abzuschätzen. Ich glaube, dass das von Region zu Region oder vielleicht sogar von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein wird. Wir werden selbst in unserer Region durch das Abnehmen der Bevölkerung Landstriche haben, in denen es schwierig sein wird, kommunal überhaupt noch zu investieren. Mein Eindruck ist, dass Kofinanzierungen durch öffentliche und Stiftungsgelder Ansätze für Problemlösungen leisten können, die später von Kommunen fortgeführt werden. Meine Befürchtung ist jedoch, dass sich in Städten und Landkreisen, die ohnehin schon hinten anstehen, auch in der Stiftungslandschaft nicht so viel tun wird.
Welche Möglichkeiten haben Kommunen, Stifter zu motivieren und neue auch zu generieren?
Wir müssen sehen, dass wir eine gute Verbindung schaffen einerseits zwischen den demokratischen Organen, etwa dem Rat einer Stadt oder den Kreistagen, und auf der anderen Seite denjenigen, die Acht geben müssen auf den Stiftungszweck und auf das Stiftungsvermögen. Wir versuchen das als Stadt mit zu initiieren und anzuregen. Es gibt zum Glück Menschen, die in der Lage sind zu stiften und etwas suchen, bei dem sie sich wiederfinden. Wir versuchen deutlich zu machen, wo gesellschaftliche Bereiche liegen, denen es gut täte, wenn dort ein bisschen mehr öffentliches Kapital zusammen mit privatem Kapital reinfließen könnte. Persönliches, bürgerschaftliches Engagement ist ein Gewinn für jedwede Bürgergesellschaft. Es macht etwas mit dieser Gesellschaft, und ich habe die Hoffnung, dass es ansteckend wirkt.