Malerei in Musik übersetzt
Improvisieren, das Spielen ohne auskomponierte Noten, ist eine besondere Herausforderung für jeden Musiker. Eine neue CD versammelt nun Aufnahmen, die im Rahmen der Internationalen Orgelwochen an der Furtwängler & Hammer-Orgel im Kaiserdom Königslutter entstanden sind, darunter von dem weltbekannten Pariser Organisten Pierre Pincemaille, der 2018 verstorben ist.
Seit 2011 lädt die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz in Kooperation mit dem Berliner Dom und der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig jedes Jahr bekannte Organisten ein, die historische Orgel des Kaiserdoms in Königslutter zu bespielen. Nicht nur die Orgel von 1892 ist, besonders nach ihrer Restaurierung im Jahr 2010, ein besonderes Klangerlebnis. Die Farbausmalung des Domes, die August von Essenwein Ende des 19. Jahrhunderts ganz im Stil des Historismus konzipierte, verbindet sich mit dem romanischen Raum zu einem einzigartigen baulichen Ensemble. Das Bildprogramm überzieht Gewölbe und Fußböden, Altäre und Kanzeln, Möbel und Fenster. Es sollte, nach Essenweins Verständnis, rein dienenden Funktion haben ohne eine eigene Handschrift – paradoxerweise hat sie gerade dadurch einen besonderen Charakter und wird als eigenständiges Kunstwerk des Historismus erkannt. Der Kaiserdom ist das einzige komplett erhaltene Werk von Essenwein.
Musik „vom leeren Blatt“
Bei der Ausmalung des Innenraumes orientierte sich Essenwein an den mittelalterlichen Fassungen des Domes. Als Fortsetzung dieses Konzeptes werden immer wieder Gastorganisten der Orgelwochen gebeten, über Motive der Ausmalung zu improvisieren. Im Gegensatz zur streng geplanten und durchkomponierten Ausmalung des Dominnenraumes lebt die Improvisation von der Spontanität und dem Ideenreichtum der Musikerinnen und Musiker, die vom „leeren Blatt“ spielen, geschaffen aus dem Augenblick für den Augenblick. Die Kunst, Musik spontan erst beim Spielen entstehen zu lassen, hat eine lange Tradition, besonders in der Orgelmusik. Die liturgische und zeremonielle Gebrauchsmusik in den Kirchen und Klöstern war meistens improvisiert, der Organist spielte sie zu einem vorgegebenen Thema, z.B. einer Choralmelodie. Besonders in Frankreich hat die Technik der Improvisation eine lange und bis heute gelebte Tradition.
Ein Altmeister…
Mit Pierre Pincemaille ist auf der CD ein international bekannter Organist vertreten, der 2010 zu Gast in Königslutter war. Pincemaille erhielt seine musikalische Ausbildung am Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris, seit 1987 war er Hauptorganist an der Kathedrale von St. Denis, wo er die weltbekannte Orgel des berühmten Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll von 1841 spielte. Neben zahlreichen Improvisations-CDs spielte er Duruflés und Francks Gesamtwerk, Widors Symphonien, Strawinsky-Transkriptionen sowie Werke von Vierne, Alain und Cochereau ein. Ab 2005 unterrichtete er am Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris. 2018 verstarb Pincemaille im Alter von 61 Jahren.
… und zwei junge Musiker
Neben dem Altmeister sind mit Thomas Ospital und Frédéric Blanc zwei aufstrebende Musiker zu hören. Der baskische Organist Ospital ist ungeachtet seines jungen Alters bereits Gewinner zahlreicher Wettbewerbe und Preisträger. Im März 2015 wurde er zum Titularorganisten an der großen Orgel von Saint-Eustache in Paris ernannt. 2016 lud ihn die Maison de la Radio in Paris ein, erster organiste en résidence an der neuen Orgel der Firma Grenzing zu werden. Die Improvisation nimmt in Ospitals musikalischen Praxis einen breiten Raum ein, so widmet er sich zum Beispiel intensiv der Begleitung von Stummfilmen. Auch Frédéric Blanc improvisierte bereits in jungen Jahren autodidaktisch am Klavier und an der Orgel. Nach seinem Studium begann er eine internationale Karriere als Konzertorganist, Improvisator und Pädagoge, die ihn in fast alle europäischen Länder und die USA führte, wo er regelmäßig an den bedeutendsten Universitäten zu Meisterkursen eingeladen wird. Seit 1999 ist Frédéric Blanc Titularorganist an der Kirche Notre-Dame d’Auteuil in Paris an einer der schönsten symphonischen Orgeln der Hauptstadt.
Verbindung von Musik und Malerei
Herausgekommen sind dabei – so muss es sein, schließlich sind es Improvisationen – einzigartige Aufnahmen, die die Individualität und das musikalische Können der Organisten zeigen. Beim Hören entstehen Essenweins Motive wie die vier Elemente vor dem inneren Auge neu: die Erde mit schweren, tiefen Tönen, perlende Tonkaskaden formen sich zu frischem Wasser, die Luft flirrt mit hohen Flötentönen und das Feuer, das sich aus einer leise schwelenden Glut zu wild lodernden Flammen in Tonclustern entwickelte. Und zum Schluss, ein wenig heroisch Christus, in Königslutter in der Apsis thronend als Weltenrichter, der auf die Gläubigen blickt, der mit einem Versöhnung und Vergebung versprechend Dur-Akkord schließt. Die historistische Ausmalung des Domes ist bis in jedes Detail durchkonzipiert und ausgearbeitet, die Improvisationen spontan aus dem Moment entstanden. Beide, Malerei und Musik, berühren durch ihre Intensität und Kraft und die Leidenschaft der Künstler und ihre Ausdrucksstärke.
Fakten
CD: Internationale Orgelwochen Königslutter
Improvisationen von Thomas Ospital, Frédéric Blanc, Pierre Pincemaille
Erhältlich bei der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz www.sbk-bs.de
Kosten 15 Euro