7,50 Schilling wurden zum Verhängnis
Ausstellung und Katalog beschäftigt sich mit Hitlers Einbürgerung in Braunschweig und facettenreich mit dem, was folgte: von Lager 21 über das Strafgefängnis in Wolfenbüttel, die zerstörte Synagoge in Seesen, den Stichkanal Salzgitter bis hin zum Bau der „Stadt des KdF-Wagens“ bei Fallersleben.
Die Arbeitsgruppe der Heimatpfleger in der Braunschweigischen Landschaft setzt sich in ihrer aktuellen Ausstellung kritisch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im ehemaligen Land Braunschweig auseinander. Dazu ist erneut ein bemerkenswerter, reich illustrierter und 74 Seiten starker Katalog erschienen, der eindrucksvoll von regionalen Ereignissen erzählt und sie in die Zeit einordnet. „Wir wollen bei den Bürgerinnen und Bürgern in der Region ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein fördern und die historische Urteilskraft schärfen“, erläutert Harald Schraepler, Sprecher der Arbeitsgruppe, in seinem Vorwort zum Katalog. „Das Braunschweiger Land im Nationalsozialismus“ wird zunächst bis zum 3. Mai in der Portikushalle des Niedersächsischen Landtages in Hannover gezeigt. Die Ausstellung ist dort werktags von 9 bis 16 Uhr zugänglich.
In den folgenden Monaten wird sie durch die Landkreise und Städte des ehemaligen Braunschweiger Landes touren. Die Ausstellung ist nach „Braunschweigisches Land in der Kaiserzeit 1871-1918“ und „Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik 1918-1933“ bereits die dritte, die chronologisch und öffentlichkeitswirksam die jüngere Geschichte des Braunschweigischen aufgreift. Die Kataloge greifen die Inhalte der jeweils 32 Ausstellungstafeln auf und sind kostenfrei in der Geschäftsstelle der Braunschweigischen Landschaft erhältlich. Unterstützt wurde das Projekt von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, VR-Stiftung der Volksbanken und Raiffeisenbanken in Norddeutschland und der Volksbank eG, Wolfenbüttel.
Ausstellung und Katalog „Das Braunschweiger Land im Nationalsozialismus“ stellen episodenhaft regionalgeschichtliche Themen in den Fokus. Eine vollständige Dokumentation war nicht das Ansinnen. Und gerade das macht den Katalog zu spannend. Er wirft bemerkenswerte Schlaglichter, kompakt und informativ. Das inhaltliche Spektrum reicht von der Einbürgerung Hitlers über die Zwangsarbeit im Volkswagen Werk, die Zerstörung der Synagoge in Seesen, den Bau des Stichkanals, das Strafgefängnis in Wolfenbüttel bis hin zu den Luftangriffen auf Braunschweig und den letzten Kampfhandlungen in Bornum am Elm.
„Der Nationalsozialismus in Deutschland zählt mit zu den am besten erforschten Gebieten der Geschichtswissenschaft. Die meisten Bücher und Fernsehdokumentationen befassen sich jedoch nur mit den großen politischen und Gesellschaftlichen zusammenhängen. Es entsteht schnell der Eindruck, der Nationalsozialismus habe nur weit entfernt, in Berlin oder Nürnberg, stattgefunden. Vielen Menschen, besonders den jüngeren, fehlt die Verknüpfung zwischen dem Geschehen im ´Dritten Reich´ und ihrer eigenen Heimat“, lobt Ernst Gruber, Sprecher des Vorstandes Volksbank eG Wolfenbüttel, die Initiative der AG Heimatpfleger.
Das Verhängnis nahm zunächst in Braunschweig seinen Lauf. „Hitler sollte nach seiner Haft in Landsberg nach Österreich abgeschoben werden. Der Abschiebung entzog er sich durch den Antrag auf Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft, die ihm bereitwillig am 30. April 1925 gegen eine Gebühr von 7,50 Schilling gewährt wurde. Er konnte nicht mehr abgeschoben werden, hatte sich aber ein neues Problem eingehandelt. Staatenlosigkeit war mit dem Anspruch als Führer nicht vereinbar und behinderte seine Karriere, da er weder das aktive noch das passive Wahlrecht besaß. Diverse Einbürgerungsversuche in Bayern waren gescheitert. Das Gesetz sah allerdings vor, dass ein Ausländer (oder Staatenloser) nicht nur auf dem Antragsweg, sondern auch über die Verbeamtung in einem der deutschen Länder eingebürgert werden konnte“, heißt es in dem Beitrag „Hitlers Einbürgerung im Jahre 1932“.
Und weiter: „Ein Jahr lang, vom Februar 1932 bis Februar 1933, war Hitler Beamter des Freistaats Braunschweig. Am 25. Februar 1932 wurde er gegen 18 Uhr durch die Regierung Küchenthal (DNVP) und Klagges (NSDAP) ohne Laufbahnvoraussetzung zum Regierungsrat im Landeskultur- und Vermessungsamt ernannt und zugleich an die Braunschweigische Gesandtschaft beim Reichsrat in Berlin abgeordnet und dort mit der Wahrnehmung Braunschweiger Wirtschaftsinteressen betraut. Am 24. Februar 1933 wurde er als Reichskanzler wieder aus dem braunschweigischen Staatsdienst entlassen.“
Diese Episode war für Hitlers politische Karriere von entscheidender und liefert eine wesentliche Erklärung, warum das Braunschweiger Land von Wolfsburg bis Salzgitter in den Jahren der NS-Herrschaft eine außerordentliche Modernisierung erfahren habe, heißt es im Katalog.
Ein düsteres Kapitel wird unter dem Titel „Ausländerkinder in Pflegeheimen“ geschrieben. Der Beitrag beginnt so: „Unter den Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion waren einige bereits bei ihrer Ankunft schwanger. Trotz aller Strafmaßnahmen konnten sexuelle Kontakte nie ganz unterbunden werden, zumal neben Liebesbeziehungen auch sexuelle Gewalt oder auch Hungerprostitution zu Schwangerschaften führten. Bis Ende 1942 wurden schwangere Frauen in ihre Heimat zurückgeschickt. Danach wollte das NS-Regime keine Arbeitskräfte mehr verlieren und ließ entweder Zwangsabtreibungen durchführen oder trennte die Mütter nach der Niederkunft von ihren Kindern, um sie rasch wieder an die Arbeit zu bringen. Anfangs durften Mutter und Kind noch sechs bis acht Wochen zusammenbleiben, später nur noch zwei Wochen oder 10 Tage.“
Die Schreckensherrschaft betraf jedoch früh auch die deutsche Arbeiterbewegung. Mit deren Zerschlagung beschäftigt sich ein weiteres Kapitel: „Systematisch wurden SPD-Abgeordnete auf der Straße verhaftet. SS-Leute stürmten das Volksfreundehaus in Braunschweig. Angehörige der Gewerkschaft und Angestellte wurden zusammengetrieben und brutal verprügelt. Möbel, Unterlagen, sowie Fahnen und Bücher wurden auf einem Haufen vor dem Gebäude verbrannt…Im Juni 1933 wurden Razzien und Verhaftungen im Arbeiterviertel im Eichtal in Braunschweig von der SS (Schutzstaffel) und Hilfspolizisten durchgeführt. Dabei wurden willkürlich angetroffene Arbeiter verhaftet. Als Begründung wurde der Tod eines SS-Mannes vorgeschoben, den seine eigenen Leute erschossen hatten. Die Verhafteten wurden in das AOK-Gebäude gebracht und brutal gefoltert. Zehn Arbeiter wurden brutal hingerichtet, was später als Massenmord vom Rieseberg bekannt wurde.“
Alle 24 Beiträge dokumentieren Ereignisse, Pläne und Schicksale im düstersten Kapitel deutscher Geschichte. 1945 hatte der Spuk endlich ein Ende. „In herrlichem Sonnenschein, der den Widersinn der militärischen Ereignisse, die Verblendung menschlichen Verhaltens kontrastierte, näherten sich die amerikanischen Panzerspitzen am 12. April dem Gebiet des Landkreises Helmstedt“, beginnt der Aufsatz über das Kriegsende in Helmstedt. Die Lektüre des Katalogs lohnt sich.
Beiträge für die Ausstellung und den Katalog schrieben: Rolf Ahlers, Dr. Jens Binner,Dr. Claudia Böhler, Dr. Joachim Frassl, Marcel Glaser, Dr. Manfred Grieger, Markus Gröchtemeier, Manfred Gruner, Johannes Heinen, Birgit Hoffmann, Dr. Hilko Linnemann, Prof. Dr. Ulrich Menzel, Wulf Otte, Rolf Owczarski,Martina Staats, Maria Schlelein, Harald Schraepler, Bernhard Schroeter, Dr. Mathias Seeliger, Dieter Trapp, Björn Walter, Hartmut Wegner, Reinhard Wetterau und Ursula Wolff. Rudolf Zehfuß zeichnete für die Redaktion verantwortlich.
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