Abreißen oder sanieren?
Das Braunschweigische Landesmuseum stellt in seiner Sonderausstellung „Brutal modern. Bauen und Leben in den 60ern und 70ern“ die Frage nach dem Wert von Bauten der Nachkriegsmoderne.
„Sollten wir die Tatsache, dass den 1960er/70er-Jahre-Bauten(noch) kein Alters- oder historischer Wert zuerkannt wird, als Chance begreifen, um sie zukunftsfähig zu machen? Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragen die Autoren des von der Braunschweigischen Landschaft herausgegeben Buches „Achtung modern!“. Das Braunschweigische Landesmuseum hat die Aufforderung von Norbert Funke, Ulrich Knufinke, Nicole Froberg und Olaf Gisbertz gehört und die Initiative ergriffen. Mit der Sonderausstellung „Brutal modern“ hat es für die Bauten der Nachkriegsmoderne ein angemessenes Forum geschaffen und es sehr sympathisch erweitert um weitere Stücke aus dieser Zeit: einen Buggy, rekonstruierte Wohnräume und Plakate. Dies alles lässt eintauchen in jene Zeit, als Bäder orange gekachelt waren, Pril-Blumen an Kühlschränken klebten, fast alle auf Flower-Power abfuhren und große Bauten stolz Sichtbeton zeigten. Vieles ist heute wieder angesagt. Die Bauten auch?
Das Landesmuseum hat seine Pressemitteilung zur Ausstellung keck-provozierend mit „Kann das weg oder muss es bleiben?“ überschrieben. Das Museum stellt bis zum 31. März 2019 die Frage nach dem Wert von Bauten wie dem Braunschweiger Hauptbahnhof, dem Rathaus in Salzgitter-Lebenstedt oder die Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg in den Fokus und vor allem auch zur Diskussion. Thematisiert werden insgesamt 20 Gebäude aus der Braunschweiger Region (Liste s.u.). An vielen Bauten nagt der Zahn der Zeit. Was nun? Abreißen oder Sanieren? Die Initiatoren von „Achtung modern!“ wollten mit dem Wort Achtung dem Presslufthammer vorbeugen und darauf hinweisen, dass sich ein zweiter Blick vor dem finalen Urteil lohnt. Es soll heißen: Schaut genau hin und entdeckt die Qualitäten. Das Landesmuseum wählte dagegen den Titel „Brutal modern“. Er orientiert sich an den „Brutalismus“ titulierten Architekturstil. Die Bezeichnung resultiert aus dem Französischen. béton brut heißt übersetzt roher Beton. Und das klingt natürlich wenig liebenswürdig.
„Eine Ausstellung über die Architektur der Nachkriegsmoderne ist insbesondere in Braunschweig überfällig “, betont Museumsdirektorin Dr. Heike Pöppelmann in der Pressemitteilung. „Was viele nicht wissen: Die Technische Universität in Braunschweig war in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik eine einflussreiche Ausbildungsstätte für Architekten, und zwar so einflussreich, dass der Begriff der `Braunschweiger Schule` geprägt wurde.“ Im bemerkenswert umfangreichen Rahmenprogramm (s.u.) widmet sich deswegen Olaf Gisbertz von der Fachhochschule Dortmund am 19. März 2019 in seinem Vortrag „Marke und Mythos – Braunschweiger Schule“ ausführlich dem Thema.
Im Rahmen von „Achtung modern“ wurden, von der Braunschweigischen Landschaft finanziert, drei Videobeiträge mit Protagonisten der damaligen Bauweise produziert. Die Architekten Hans-Joachim Pysall (Heinrich Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg), Helge Bofinger († 7. Juni 2018, Warenhaus Galeria Kaufhof/früher Horten in Braunschweig) und Ulrich Hausmann (St. Thomas-Kirche in Helmstedt) erklären darin ihre Arbeiten. Die Filme werden in der Ausstellung, die unter anderem von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und der Braunschweigischen Stiftung gefördert wird, gezeigt.
Hausmann sagt darin: „Mit Abwehrreaktionen haben wir gelebt oder leben müssen. Die Leute kannten Beton eigentlich nur aus dem Bunkerbau und aus irgendwelchen kriegerischen Gebäuden. Insofern waren das eigentlich für uns Reaktionen, mit denen wir gerechnet haben.“ Bis heute hält die Kontroverse über die Architektur an.
In Braunschweig stehen vor allem zwei exponierte Bauten der Nachkriegsmoderne im Fokus: der Hauptbahnhof und der Rathaus-Neubau. Natürlich spielen sie in der Ausstellung eine Rolle. Der Braunschweiger Hauptbahnhof gilt bundesweit als besonders hässlich. Das behaupten selbst jene, die ihn gar nicht kennen. Als Anja Hesse, Kulturdezernentin der Stadt Braunschweig, einst 1978 mit dem Zug ankam, um an der Hochschule für Bildende Künste zu studieren, empfand sie ihn auch als düster, zugig, unwirtlich. In ihrer Laudatio auf den Hauptbahnhof (2013) schloss sie jedoch zu recht mit den Worten: „Ich würde mir wünschen, dass sich im Inneren noch mehr täte und der Bahnhof die Gäste in seiner Eingangshalle noch ein wenig mehr willkommen heißt. An seinem Äußeren – inzwischen würde ich so weit gehen und von einer `majestätischen Ausstrahlung` sprechen – müsste sich nichts ändern. Im Gegenteil: Es ist eine Bilderbucharchitektur der 1950er und 1960er Jahre.“ Das Beispiel zeigt, wie sich Bauten der Nachkriegsmoderne entwickeln können. Hesse belegt, dass das Urteil „einmal hässlich – immer hässlich“ unzutreffend ist. Die Stadt Braunschweig hat tatsächlich viel und richtig investiert, etwa mit dem glasüberdachten Nahverkehrsterminal oder der unmittelbaren Umfeldgestaltung.
Auf der anderen Seite steht der Rathaus-Anbau am Bohlweg. Ihm fehlt die Akzeptanz, die sich der Bahnhof erworben hat. Schon vor einem Jahrzehnt waren Abrisspläne aufgekommen, wurde von einem massiven Sanierungsstau gesprochen. Das Gebäude müsste umfassend energetisch saniert und optisch aufgewertet werden, hieß es. Stockwerke sollten abgetragen werden, um eine erträglichere Bauhöhe zu realisieren. Passiert ist seither wenig bis gar nichts. „Das Rathaus ist selbstverständlich in die Jahre gekommen, aber wir können natürlich nicht alles, was in den 70er Jahren gebaut wurde, einfach abreißen“, sagte Städtebauer Walter Ackers während einer Podiumsdiskussion der Braunschweiger Zeitung (2013). „Man kann vieles kritisieren an dem Rathaus, aber so schlecht, wie es in der öffentlichen Meinung gemacht wird, ist es nicht“, sagte er. „Anpacken!“, möchte man den Stadtvätern zurufen.
Ein Abriss ist schließlich endgültig. Schon wenige Jahre nach dem Abriss des Welfenschlosses im Herzen der Stadt Braunschweig im Jahr 1960 wurde das historische Bauwerk schmerzlich vermisst und gab es erste Wiederaufbaupläne. Die oft hitzigen Debatten um Wiederaufbauprojekte wie des Braunschweiger Schlosses, des Berliner Stadtschlosses / Humboldtforums oder der Frankfurter Altstadt unterstreichen: Ein Wiederaufbau kann den Verlust des Originals nie vollständig ersetzen, heißt es in der Pressemitteilung des Landesmuseums.
Vor diesem Hintergrund präsentiert das Museum nicht nur Pläne und Fotos aus der Entstehungszeit der Gebäude, die zum Teil von internationalen Größen wie Alvar Aalto oder Hans Scharoun entworfen wurden, sondern zeichnet auch ein lebendiges Bild der Zeit. Am Ende der Ausstellung fragen die Macher der Ausstellung nach dem Urteil der Besucherinnen und Besucher über die präsentierten Gebäude: Abrisswürdige Bausünde oder architektonische Perle?
Liste der präsentierten Gebäude:
Braunschweig:
– Hauptbahnhof Braunschweig
– Rathaus (Erweiterungsbau)
– Braunschweigische Landessparkasse (Alter Bahnhof)
– Stadthalle Braunschweig
– TU-Institut für Kolbenmaschinen und Pfleiderer-Institut für Strömungsmaschinen
– Stadtteil Schwarzer Berg
– TU-Institut für Statik und Stahlbau
– Pianofortemanufaktur Grotrian-Steinweg
– Warenhaus Horten (heute Galeria Kaufhof)
– Warenhaus Karstadt am Gewandhaus
– Studentenwohnheim APM Rebenring („Affenfelsen“)
Wolfsburg:
– Terrassenhäuser, Wolfsburg-Westhagen (Architekt Spengelin)
– Ev. luth. Stephanuskirche
– Kath. St. Raphael-Kirche
– Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule
– Scharoun Theater Wolfsburg
Helmstedt:
– St.-Thomas-Kirche
Wolfenbüttel:
– Herzog August Bibliothek
Salzgitter:
– Rathaus Salzgitter
Peine:
– Werksgasthaus im Stahlwerk Peine
Daten und Fakten:
Laufzeit: 13. Oktober 2018 bis 31. März 2019
Öffnungszeiten: Di – So von 10 bis 17 Uhr, jeden 1. Di im Monat bis 20 Uhr, Mo Geschlossen.
Eintrittspreise: Erwachsene 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Kinder 3 Euro.
Dialogführungen: Jeweils dienstags um 18 Uhr (Dauer 90 Min.) Kosten: Museumseintritt, max. 20 Teilnehmer, Anmeldung unter (0531) 1225 2424 oder buchung.blm@3landesmuseen.de
Im Gespräch:
Museumsdirektorin Heike Pöppelmann mit …
6. November 2018: Gerhard Glogowski, ehemaliger Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig.
4. Dezember 2018: Rocco Artale, Ehrenbürger der Stadt Wolfsburg und einer der ersten sog. Gastarbeiter der Volkswagen AG.
8. Januar 2019: Christina Krafczyk, Präsidentin des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege, Hannover.
5. Februar 2019: Joachim Hempel, ehemaliger Domprediger, Braunschweig.
Podiumsdiskussion: 19. Februar: (19 Uhr) Ist die Nachkriegsmoderne noch zu retten? Es diskutieren u.a. Christina Krafczyk (Präsidentin Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege), Alexander von Kienlin (Leiter Institut für Baugeschichte an der TU Braunschweig) und weitere. Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich
Vorträge: (Jeweils dienstags um 19 Uhr, Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich)
23. Oktober 2018: Gesegneter Beton. Skulpturaler Kirchenbau der späten Moderne, Dr.-Ing. habil. Ulrich Knufinke, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Hannover
20. November 2018: Durch Braunschweigs Straßen in den 50er und 60er Jahren – ein Filmvortrag, Dieter Heitefuß, Fotograf und Heimatpfleger, Braunschweig.
11. Dezember 2018: Schwarzer Himmel – blauer See: Heinrich Heidersbergers Architekturinszenierungen, Bernd Rodrian, Geschäftsführer Institut Heidersberger gGmbH, Wolfsburg
15. Januar 2019: Widerschein der Zentren, Selbstbewusstsein der Provinz? Versuch, ein kritisches Bezugsnetz um die norddeutsche zweite Nachkriegsmoderne zu spinnen, Nikolaus Bernau, Architekturkritiker und Journalist, Berlin.
19. März 2019: Marke und Mythos – Braunschweiger Schule, Olaf Gisbertz, Fachhochschule Dortmund
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