„Die Weltgeschichte geht über dies Land dahin“
Geschichte(n) aus dem Braunschweigischen, Folge 37 und Schluss: Auszüge aus dem Rückblick auf die Braunschweigische Landesgeschichte von Professor Gerhard von Frankenberg während der Schlusssitzung des Braunschweiger Landtags am 21. November 1946.
Für die historische Betrachtung über das Ende des Braunschweiger Landes anlässlich des 75. Jahrestags mit dem Aufgehen im neu gegründeten Bundesland Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten wählten wir ein Zitat aus der Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten Professor Gerhard von Frankenberg für die Überschrift. „In unseren Herzen wird Braunschweig immer leben!“ stand über dem Beitrag. Dazu erreichten uns Leserzuschriften, die mehr aus der viel zitierten Rede wissen wollen. Deswegen veröffentlichen wir hier die wichtigsten Passagen. Die komplette Rede findet sich in dem Buch „Anfang und Ende zugleich. Der Braunschweigische Landtag 1946“ von Klaus Erich Pollmann, das im Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsverlag als Band 35 im Jahr 1999 (ISBN 3-928 009-16-8) erschienen ist. Gefördert wurde das 344 Seiten starke Buch von der Braunschweigischen Stiftung (damals Stiftung Nord LB/Öffentliche). Hier die Auszüge:
„Group Captain! – Meine Damen und Herren!
Uns ist Braunschweig die liebe Heimat, allen Deutschen aber hoffentlich mehr als ein „Kleinstaat zwischen Harz und Heide“. Braunschweig ist deutsches Kerngebiet; Harzgebirge mit rauschenden Wäldern und stolzen Schlössern, idyllische Täler im Solling und Ith, prangendes Fruchtland in der Niederung! Und reich wie die Landschaft ist das Volkstum: Der aufrechte Niedersachse, dessen Stamm als letzter noch zu den alten Göttern hielt, bis Karl der Große ihn unterwarf, verschmolz hier mit dem geistig beweglichen Thüring zu einem Typ von höchster Vitalität und starker Eigenart, dem Ostfalen. …
Unrecht nie lange geduldet
Freiheitsdrang ist überhaupt ein Charakterzug des Braunschweiger Volkes. Bezeichnend sind die Kämpfe zwischen Geschlechtern und Zünften, von denen das Schichtbuch berichtet. Auch das schwarze Blatt der Stadtgeschichte sei nicht verschwiegen, das von der Hinschlachtung des Volksführers Henning Brabant durch brutale Reaktion und Orthodoxie erzählt. Aber in unserem Lande hat die Freiheit stets Verfechter gefunden. Auch unser steifnackiges Landvolk und unser aufrechtes Beamtentum haben Unrecht nie lange geduldet. Ich erinnere an die Verjagung des unfähigen Fürsten Karl II. im Jahre 1830. Ganz entsprechend erwuchs hier denn auch eine aufgeklärte, klassenbewusste Arbeiterschaft, deren antimilitaristischer Sinn bereits 1870 in der Lötzener Kettenaffäre zum Ausdruck kam, als ihre Vertreter – damals schon! – einen „Frieden ohne Annexionen“ zu fordern wagten und dafür eingekerkert wurden. …
Freiheitsdrang herrscht aber nicht minder auf geistigem Gebiet. Auch rechtsstehende Schriftsteller haben anerkannt, dass Klarheit des Denkens und Ablehnung ungesunder Mystik bei uns zu Hause sind. Ruhmvoll ist die Geschichte des Landes seit den ältesten Zeiten. Zwei Kaiser hat es dem Reiche geschenkt, und in allen Stürmen war es ein Hort deutschen Wesens, wie uns das Wilhelm Raabe und Ricarda Huch geschildert haben. Gelehrte und kunstsinnige Fürsten aus dem alten Welfengeschlecht mehrten seinen Ruhm: Julius, Gründer der Universität Helmstedt; August der Jüngere, Stifter der Bibliothek zu Wolfenbüttel, der damaligen Residenz, Karl I., der nach den Plänen des Abtes Jerusalem das Collegium Carolinum gründete, die älteste Technische Hochschule Deutschlands. Andere Fürsten sammelten kriegerische Lorbeeren, so Ferdinand, der Sieger von Krefeld und Minden, Feldherr Friedrichs des Großen und Georgs II. von England, er, der sich so bescheiden „Gutsherr von Vechelde“ nannte und General-Großmeister der Freimaurer war. Auch im Braunschweigischen Fürstenhause können wir einen Hang zum Abenteuerlichen, Romantischen feststellen. Im Dreißigjährigen Krieg beherrschte er den „tollen Christian“, und zur napoleonischen Zeit begeisterte „Herzog Öls, der tapfere Held“ durch seinen sagenumwobenen Zug das ganze deutsche Volk. Als Waffengefährte Wellingtons fiel er bei Quatrebras, der „Schwarze Herzog“, zwei Tage vor der Schlacht von Waterloo. …
Krisenfeste Wirtschaft
Bezeichnend ist die gesunde Wechselwirkung unserer Landwirtschaft mit der Industrie, mit Mühlenbau, Konservenfabriken und Fleischwarenverarbeitung. Doch auch Pianos und Rechenmaschinen, Kameras und Mikroskope, Fahrräder und Autos wurden hier geschaffen, und der Eisenbahnsignalbau fand seine Stätte. Charakteristisch für die industrielle Entwicklung Braunschweigs ist die Neigung zur Qualitätsarbeit, anknüpfend an Traditionen wie die Porzellanmanufaktur Fürstenberg und die alte Kunsttöpferei. Hierdurch wurde der Export begünstigt, und auch das blühende Handwerk, die starke Kleinindustrie verhalfen dem Lande zu einer verhältnismäßig krisenfesten Wirtschaft.
Ja, die Braunschweiger wussten zu leben und Leben zu wecken auf allen Gebieten! Wie einst in den alten Klöstern – ich nenne nur Walkenried und Michaelstein, Amelunxborn, Riddagshausen und Gandersheim, wo Roswitha dichtete, so blühten später Kunst und Wissen in Schule und Theater. Unser Braunschweiger Theater hat Goethes „Faust“ zum ersten Male aufgeführt! Kostbare Archive wuchsen empor, Museen mit unschätzbaren Gemälden und andere Sammlungen entstanden. Unser Oberlandesgericht – älter als das berühmte in Celle – schuf ein lebensfähiges Bauernrecht. Unser Forstwesen wurde in Forsteinrichtung und Kulturmethoden vorbildlich für ganz Norddeutschland. Alles in allem: Ein Kulturzentrum, das Beachtung verdient, vergleichbar der „klassischen Quadratmeile der Geologie“ oder einem Brennspiegel, der Strahlen aufnimmt und sie gesammelt zurückwirft. …
Heinrich Jaspers Verdienst
Als aber nach dem ersten Weltkrieg die neue Zeit an die Tore pochte, als 1918 das allzu preußisch gewordene Reich zusammenbrach, da nahm Braunschweigs Volk – vertreten durch den zu Unrecht verlästerten August Merges – dem persönlich liebenswerten letzten Welfen die Zügel der Regierung aus der Hand und wagte die Probe, ob es sich selbst regieren könne. Und trotz des furchtbaren Endes, das die deutsche Republik gefunden hat, dürfen wir uns gestehen: Hier in Braunschweig war die Probe bereits gelungen. Der alte demokratische Zug im germanischen Wesen – Eigenwille und doch Gemeinsinn –, nun konnte er sich zum ersten Male seit Jahrhunderten wieder entfalten, neue Formen des Wirkens finden. Dass das gelang, ist vor allem eines Mannes Verdienst, der heute hier stehen sollte, eines echten Niedersachsen: Heinrich Jasper. …
Großes wurde damals geleistet. Aus den Trümmern des ersten Weltkriegs wuchs ein neues Braunschweig, ein Freistaat, in dem sich alle guten Kräfte regen konnten. Eine Reform der Verfassung und Verwaltung entstand und insbesondere ein neues Gemeinderecht, das sich an den Namen Otto Grotewohls knüpft. Die immer wieder sich auftürmenden sozialen Schwierigkeiten wurden überwunden, soweit das einem Einzelstaate möglich war, Winterhilfen wurden gegeben, das Schulgeld gestaffelt, die zahlreichen Pächter gegen Willkür und Unrecht geschützt. An eine vorbildliche Steuergesetzgebung schloss sich der innere Finanzausgleich an. Im Harz entstanden Talsperren, unter schweren Opfern wurde der Mittellandkanal weitergeführt (andere haben später den Ruhm eingeheimst), ein Flughafen wurde ausgebaut. Wohnungsbau und Genossenschaftswesen gefördert. …
Sauberkeit der Verwaltung
Noch wichtiger als das alles aber war die unter Jasper herrschende Sauberkeit der Verwaltung, Gerechtigkeit bis zur Selbstentäußerung, musterhafte Ordnung im Staatshaushalt und in der Verwaltung der reichen Domänen und Forsten. Daran fügte sich Ausbau der Staatsbank und Schaffung der „Braunschweig GmbH“ als Dachorganisation der staatlichen Unternehmen. Braunschweig brauchte keinen Vergleich zu scheuen. Wer damals mit dem Auto reiste empfand es wohltuend, wenn er auf eine unserer Staatsstraßen kam. Und dies alles wurde durchgesetzt nach einem verlorenen Krieg, unsäglichen Widerständen der Reaktion zum Trotz, gegen offene und geheime Auflehnung, gegen Verleumdungen und Drohungen. …
Zielsicher wurde weiter gebaut, bis das deutsche Volk 1931 und 1933 unter dem Einfluss der Weltkrise und des vom Großkapital finanzierten Hitlerismus seelisch und geistig zusammenbrach. Gerade dem fortschrittlichen Braunschweig galt der besondere Hass der Nazis, die seine Bedeutung wohl erkannt hatten, und so erlag es nach Thüringen ihrem konzentrierten Ansturm, dem die Republikaner des kleinen Landes nicht mit entsprechenden Mitteln begegnen konnten. Wir mussten mit ansehen, dass von Braunschweig aus Hitler durch Schiebung zum deutschen Staatsbürger gemacht wurde – der Totengräber des Deutschen Reichs! …
Scheinblüte des Dritten Reichs
Und wir erlebten besonders krass die blecherne Scheinblüte des Dritten Reichs. Allerdings auch recht reale Neuerungen: Gewaltige Industrien wurde für Zwecke des Hitler-Reiches aus dem Boden gestampft – sie müssen und sollen nun friedlichem Aufbau dienen. Die blühende Arbeiterbewegung aber wurde zerschlagen. Heute weiß die Welt, dass die sozialdemokratischen Funktionare weiter sahen als jene Bankherren und Industriekapitäne, die ihr eigenes Grab schaufelten, indem sie Hitler die Mittel gaben, die sozialistische Bewegung zu zertrümmern. In den Kot gezogen wurde, was uns wert schien und wirklich geeignet war, der Zukunft zu dienen.
Was alle Stürme der Zeiten nicht vermocht hatten, die Nazis haben es fertiggebracht: In Trümmern oder ausgebrannt liegen Kirchen und Giebelhäuser, Gewandhaus und Alte Waage, das herrliche Altstadtrathaus, das schöne Landtagsgebäude und der alte Bahnhof, der Bäckerklint, auf dem Eulenspiegel unter Tränen lächelt, die Häuser der Dannenbaums, Bierbaums und anderer stolzer Familien, deren Blut in unseren Adern rollt…
Dennoch ist das Volk von Braunschweig wieder mit gewohnter Energie ans Werk gegangen. Unter Führung unverzagter Männer, wie Hubert Schlebusch und Alfred Kubel und warmherziger Frauen, wie Martha Fuchs, in denen sich die besten Traditionen der Arbeiterbewegung verkörpern, begann Braunschweig in vorbildlicher Zusammenarbeit mit der englischen Militärregierung den Neuaufbau. Wichtige Rechte des Staates wurden wiederhergestellt, die Räumung der Trümmer und der materielle Wiederaufbau schritten – in der Stadt Braunschweig unter Führung des wiedergekehrten Oberbürgermeisters Böhme – rasch voran. Auch im kulturellen Aufbau marschiert unser Land an der Spitze: Seine Hochschule war die erste, die wieder arbeitete, und in Lehrerausbildung und Jugendfürsorge strebt Braunschweig ebenfalls, seinen hohen Ruf aufrechtzuerhalten.
Tapfere Bereitschaft zum Neuen
Jene Unverwüstlichkeit, die zum Wesen des Braunschweigers gehört, jene tapfere Bereitschaft zum Neuen, zum Bessermachen ist noch lebendig; denn das ist etwas, das uns keiner nehmen kann, das so dauerhaft ist wie die Harzberge und die Buchendome des Elms. Dennoch geht nun die Weltgeschichte über dies Land dahin, das so viele Jahrhunderte seine Selbständigkeit bewahrt hat. Wohl sah der Kundige schon lange, dass eine Neuordnung der deutschen Länder kommen musste. Aber wir hatten sie uns anders gewünscht!
Wir hätten gern selbst mitentschieden, wären gern allmählich hineingewachsen in das größere Ganze, dem wir nun angehören sollen! Möge die Neuerung dennoch zum Guten ausschlagen! Ja, möge der Rahmen, in dem wir wirken können, bald noch viel weiter gespannt werden! Nicht um „nationaler Belange“ und eitlen Chauvinismus willen hoffen wir das, sondern weil wir wissen, dass nur so ein Ausgleich der Kräfte möglich ist. Weltoffen war Braunschweiger Art von je, und immer hat der Reichsgedanke hier begeisterte Vertreter gefunden. Möge nun einst Europa, ja, die ganze Erde uns zum „großen Vaterland“ werden – deshalb wollen wir doch stolz bleiben auf die Heimat und ihre Geschichte. In unseren Herzen wird Braunschweig immer leben!“
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