Das Leid an den „Heimatfronten“
Unter dem Titel „Die Jahre 1915 bis 1918: Europa – Menschen – Toleranz“ veröffentlicht Gundolf Algermissen als Herausgeber und Autor eine Sammlung von Beiträgen zum 1. Weltkrieg.
Vor 100 Jahren tobte der 1. Weltkrieg in Europa. Viele Veröffentlichungen beschäftigten sich bereits mit den kriegerischen Auseinandersetzungen. Gundolf Algermissen, Leiter der Akademie Regionale Gewerkschaftsgeschichte für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt mit Sitz in Braunschweig, suchte andere Ansätze, um sich mit der Zeit zu beschäftigen. Er beleuchtet die Entwicklung der Kultur während des 1. Weltkrieges, der Musik, der Malerei, aber auch das jüdische Soldatenleben, sowie die Lebensbedingungen in sieben Ländern der Kriegsteilnehmer.
Unter dem Titel „Die Jahre 1915 bis 1918: Europa – Menschen – Toleranz“ veröffentlicht Algermissen als Herausgeber und Autor eine Sammlung von Beiträgen. Die thematische Einführung liefert Prof. Rolf Wernstedt zum Thema „Philosophisches Nachdenken zum Ersten Weltkrieg“. Die Veröffentlichung, übrigens die 66. in der Schriftenreihe „Regionale Gewerkschafts-Blätter“ ist von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz (SBK) gefördert worden.
Algermissen: „Das ermöglicht uns, allen Schulen im Wirkungsbereich der SBK jeweils kostenlos einen Band für die Schulbibliothek zur Verfügung zu stellen. Bei Interesse des jeweiligen Fachbereichs, aber auch für Jugendprojekte können darüber hinaus PDFs des ganzen Buches oder einzelner Artikel angefordert werden.“ (Kontakt siehe unten unter Fakten)
Ein Jahr lang hat Algermissen am Zusammentragen der Artikel gearbeitet. Dabei sind ihm seine internationalen Kontakte aus seiner 30-jährigen, hauptamtlichen gewerkschaftlichen Tätigkeit zu Gute gekommen. Es war ein Jahr, in dem er private Urlaubsreisen nutzte, Kontakte zu pflegen, wiederzubeleben und die Autoren zum Verfassen ihrer Beträge zu animieren. Das Ergebnis sind Berichte aus Norddeutschland sowie Russland, Luxemburg, Belgien, Frankreich, Österreich und Italien.
„Manche Kapitel des Buchs haben durch die Entwicklung in Europa unerwartete Aktualität erhalten“, sagt Algermissen. So der Bericht „Lage der Flüchtlinge in Woronesch im Ersten Weltkrieg“ von Boris Firsov. Die Lektüre des Artikels erinnert durchaus an die heutige Situation in Deutschland. Die Parallelen sind vielfach. In die Stadt Woronesch strömten nach Kriegsbeginn tausende Flüchtlinge aus Polen, Lettland, Litauen, geflohene Juden und darüber hinaus Kriegsgefangene unter anderem Deutsche, Tschechen und Slowaken. Die Lage war angespannt. Es wurden Menschen gesucht, die Russisch-Unterricht geben konnten, um die kulturellen Unterschiede zu entschärfen.
Die thematische Bandbreite des Buchs reicht von Betrachtungen zur Malerei und Grafik über Propaganda in Kinder- und Jugendliteratur, die Zerrissenheit der Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, die Ereignisse in Luxemburg („D’Preiße senn do!“) bis zu „Belgien – Diplomatie, deutsche Arroganz und unmenschliche Aktionen“.
Zwei Kapitel aus Frankreich beschäftigen sich mit Soldaten, die zum Tode verurteilt wurden sowie den ersten Bomben auf Paris und ihre Folgen. Österreich ist mit einem Bericht über die Zeit von 1914 bis 1918 im Salzburger Land vertreten. Das Kapitel über den „besonderen Alltag“ in der Emilia-Romagna zeichnet sich – wie der Geschichte aus Woronesch – durch ihren aktuellen Bezug aus. Sie schildert die Situation von Flüchtlingen und die Versorgung von Kriegswaisen.
Der Herausgeber ist mit fünf Beiträgen vertreten. Er schreibt zum Beispiel über das „Eiserne Buch von Verden an der Aller“, einer Beschreibung des Spendensammelns durch den Verkauf von eisernen Nägeln, die in ein Buch geschlagen wurden, um so Geld für die Unterstützung von Verletzten und Bedürftigen zu sammeln. Diese Art des Spendensammelns war in vielen Städten üblich. In Braunschweig war es die etwa drei Meter hohe Figur Heinrichs des Löwen, die als eiserner Heinrich heute im Seiteneingang des Braunschweigischen Landesmuseums am Burgplatz zu sehen ist.
Weitere Kapitel beschäftigen sich mit „Versorgungsengpässen und dem Gewerkschaftsgeburtstag in Hannover“, „Alltag und Politik in Magdeburg“ sowie den Alltag in der Garnisonsstadt und dem Kriegsgefangenenlager Stendal.
Mit dem Zeitzeugenbericht eines Unbekannten ruft Algermissen den Streik der Auszubildenden in Braunschweig 1916 in Erinnerung, initiiert von oppositionellen jugendlichen Kriegsgegnern aus dem „Bildungsverein jugendlicher Arbeiterinnen und Arbeiter“, die im Braunschweiger Land zum ersten Massenprotest gegen den Krieg aufriefen. Auslöser war der Sparzwangerlass, der die Lehrlinge dazu verpflichtete, einen Teil ihres Lohns in Kriegsanleihen zu investieren. Es war Geld, das den Familien anschließend zum Leben fehlte. Der Befehl des Chefs des Generalkommandos von Linden-Suden wurde nach der Drohung eines Generalstreiks der Braunschweiger Arbeiter zurückgenommen.
Das lesenswerte Buch zeigt die vielen Facetten des Krieges „an den Heimatfronten“ der unterschiedlichen Länder mit all ihrem Leid und all ihren Sorgen. Es erinnert mit seinen Parallelen zur Gegenwart daran, dass sich aus der Geschichte lernen lässt.
Fakten:
„1915 bis September 1918: Europa – Menschen – Toleranz“
Herausgeber Gundolf Algermissen
Erschienen in der Schriftenreihe Regionale Gewerkschaftsblätter, Heft 66
Akademie für Regionale Gewerkschaftsgeschichte für Niedersachsen und Sachsen Anhalt
248 Seiten, viele Abbildungen
Preis 15 Euro
ISBN978-3-932082-49-8
Im Buchhandel und bei
Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, Geschäftsstelle Wolfsburg, Burgallee 6, 38 448 Wolfsburg/Neuhaus, Mail: Kati.Zenk@aulwob.de