Der Mann fürs Faktische: Theatermacher Gilbert Holzgang
Gilbert Holzgang hat sich mit Dokumentartheater in Braunschweig einen Namen gemacht. Jetzt gab’s das Landesverdienstkreuz.
Seine Wohnung ist voller Bilder. Viel Im- und Expressionismus, auch ein paar Gemälde der aus Braunschweig stammenden Malerin Galka Scheyer, der er zu neuer Popularität verhalf. Gilbert Holzgang hat ihr zwei Stücke gewidmet, die er mit dem von ihm gegründeten Theater Zeitraum aufgeführt hat. Gerade hat er den Text einer 350-seitigen Biografie abgeschlossen, die vor Weihnachten erscheinen soll. Das Landesverdienstkreuz, das er Ende April erhielt, war auch eine Würdigung seiner Forschungen rund um die 1889 in Braunschweig geborene und 1945 in Hollywood gestorbene Künstlerin, die bis dahin vor allem als Impresario der „Blauen Vier“, des expressionistischen Maler-Quartetts Kandinsky, Feininger, Jawlensky, Klee, bekannt war.
Dieser Bezahlartikel ist zuerst erschienen am 3.5.2023
„Als ich den offiziellen Brief vom Land erhielt, dachte ich zunächst, da sei eine Mahnung drin, weil ich irgendeinen Fehler beim Verwendungsnachweis einer Publikation aus dem Staatsarchiv gemacht habe“, sagt Holzgang bei unserem Gespräch. Zweite Reaktion: „Fühlt sich wie 19. Jahrhundert an, so alt bin ich doch gar nicht.“ Aber als er die Liste anderer Preisträger las, fühlte er sich doch geehrt, es ginge immer um bürgerliches, soziales Engagement.
Recherchen zur Nazi-Zeit: Täter, Mitläufer, Opfer
Da passt er als Theatermacher durchaus rein. Zumal er, der gebürtige Schweizer, mit seinen akribischen Archivforschungen den Menschen der Region immer auch etwas über ihre eigene Geschichte nahegebracht hat. Denn seine erste eigene Inszenierung in Braunschweig war 1997 „Deutsche Karrieren“, eine erweiterte Lesung aus Briefen des Braunschweiger Bürgertums mit erschreckenden Kontinuitäten aus der Weimarer in die Nazi-Zeit. Oft spielte auch der Ort mit: Wenn man auf dem Dachboden der leeren Flughafen-Kaserne über die Verstrickungen der Wehrmacht in Nazi-Verbrechen erfuhr.
„Ich war natürlich immer sehr politisch interessiert. Das war genau die Zeit mit der umstrittenen Wehrmachtsausstellung. Der ganze Komplex von Tätern, Mitläufern und Opfern in der NS-Zeit zeigte ja auch, wie Gesellschaft funktioniert, das war schon sehr erhellend und oft auch erschreckend“, sagt Holzgang. Sein Markenzeichen: Alles beruhte auf Aktenbasis. Gesprochen und meist auch schlichtweg vorgelesen wurde nur, was er in Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern, Akten gefunden hatte.
Ausbildung in Japans Nô-Theater
Ein Rolf Hochhuth hätte Stücke mit erfundenen Szenen und Charakteren daraus gemacht. „Dazu fehlte mir die schriftstellerische Ambition, vielleicht auch Fantasie. Ich fand immer, dass die wirklichen Dokumente selbst am deutlichsten sprechen.“
Und auch große Inszenierungen mit Bewegung, Kulissen, Agieren hat er nicht angestrebt. Dabei kommt er aus genau der gegenteiligen Tradition: Es war Studententheater und Ausdruckstanz, was den jungen Rechts- und Wirtschaftsstudenten am Uni-Leben faszinierte. Als Schauspieler lebte er 1978 drei Jahre mit einer freien Theatergruppe in Rom, die vor allem auf Bewegung setzte und dabei indische, balinesische und südamerikanische Tanzformen integrierte. In Japan eignete er sich auf einer Fortbildung etwa die Techniken des Nô-Theaters an.
Hospitanz an der Berliner Schaubühne
Gerade dort sei ihm aber auch die Bedeutung des Textes wieder klar geworden, und so fühlte er sich als Hospitant und Statist an der Berliner Schaubühne bei Peter Stein und Klaus Michael Grüber auch „im Olymp“, wie er sagt. „Aber da konnte man nichts werden, eine Hilfskraft wie ich wurde kaum beachtet, ich war sogar zu unbedeutend zum Angeschrienwerden, und das kam da sonst oft genug vor“, erinnert sich Holzgang.
Er fand einen Job als Lehrer für Körperbewusstsein und Bewegung an einer Münchner Schauspielschule, unterrichtete Taichi und Akrobatik und landete als Dramaturg am Theaterhaus Stuttgart. „Hier lernte ich die kreativen Köpfe kennen, die kurz darauf in Braunschweig das freie Theater ,La Otra Orilla’ gründeten (heute LOT-Theater). Ich zog mit, half beim Einreißen der Wände in der ehemaligen Autowerkstatt genauso wie bei der Öffentlichkeitsarbeit und machte die ersten Dokumentarstücke“, erzählt Holzgang.
Mitbegründer des LOT-Theaters
Seit 2000 hat er dafür das Theater Zeitraum gegründet, das projektweise arbeitet. „Ich habe nie Anträge auf Kontinuitätsförderung gestellt, weil ich nicht vorher wusste, welches Projekt mich in zwei Jahren interessieren würde“, sagt der Theatermacher. Also lieber jedes Mal neue Förderanträge schreiben. „Ich bin froh, dass mich gerade das Kulturinstitut der Stadt und die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz immer wieder unterstützt haben. So konnte ich eigentlich immer mit dem, was ich gern machen wollte, mein Leben fristen.“
Froh ist er auch, dass er dann die Kurve zum Thema Kunst bekommen hat. „Ich habe im Biografischen Lexikon der Stadt geblättert und blieb hängen an dem kurzen Eintrag zum Maler Götz von Seckendorff, der 1914 in Frankreich gefallen war. Der Briefbestand sei im Familienbesitz, hieß es, und so fing meine Recherche an“, erinnert sich Holzgang.
Gründer des Galka-Scheyer-Zentrums
Tatsächlich hätte er das Nazi-Thema ungern weiterbearbeitet. „Das ist auf Dauer so deprimierend. Diese schrecklichen Goebbels-Tagebücher durchforsten, nur für ein kleines Zitat, das du brauchst. Oder in der Nationalbibliothek in Berlin bekam ich die Ereignisprotokolle der Einsatzgruppen aus SS, Ordnungspolizei und Wehrmacht gleich waschkörbeweise hingestellt. Nach zwei Tagen hast du genug von diesem Nazi-Jargon, und es geht um die grausamsten Massaker!“
Mit dem Maler Seckendorff ging die Kunstwelt für ihn auf. Und sein Ruf als akribischer Rechercheur schuf Vertrauen, so dass etwa die Stadt ein Stück über das Braunschweiger Sammler-Ehepaar Otto und Käthe Ralfs bei ihm anregte. Galka Scheyer kam da nur am Rande vor, trat ihm erst durch eine Buchrezension ins Bewusstsein. Und nun ist er selbst ihr Biograf geworden. Ist Vorsitzender des Galka-Scheyer-Zentrums. Ist Berater für die 2024 im Städtischen Museum stattfindende Ausstellung. Wird ein Solostück für Kathrin Reinhardt über sie schreiben. „Der Fokus liegt dann ganz auf ihr, nicht mehr so sehr auf den Malern der Blauen Vier. Ich habe neue Texte gefunden, Tagebücher aus den letzten Jahren ihrer Krebserkrankung, in die sie Ausschnitte aus ganz frühen Tagebüchern eingeklebt hat, weil sie die anderen vernichten wollte. Das wird also nochmal neuer Stoff auch fürs Publikum.“
Täglich eine Stunde Bach am Klavier
Die regionale Spurensuche habe er nie als Begrenzung empfunden, betont Holzgang. „Das hat sich immer schnell in die Reichspolitik, in die Weltpolitik geweitet“, sagt der Theatermacher. In der augenblicklichen Weltlage wisse er aber noch gar nicht, mit welchem Text er weitermachen soll. „Eine griechische Tragödie? Samuel Beckett? Dass sich das Furchtbare immer wiederholt, auch Aufklärung keine rechten Fortschritte bringt, ist frustrierend zu sehen“, sagt der 73-Jährige.
Aber arbeiten will er weiterhin. Mindestens sechs Stunden jeden Tag. Unterbrochen von Spaziergängen und einer Stunde Klavierspiel, Bach und Brahms. Reisen, anderes Theater – es fehle ihm zurzeit gar nicht. Aber begeistert erzählt er von der Oper „Dog Days“ im Staatstheater – „das Stück zur Zeit, die größte Entdeckung der letzten Jahre!“
Dieser Bezahlartikel ist zuerst erschienen am 3.5.2023 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/kultur/article238299235/Der-Mann-fuers-Faktische-Theatermacher-Gilbert-Holzgang.html