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Ein Experiment traf den Braunschweiger Zeitgeist

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1988 ging das Szenemagazin LIVING von Andreas Grosz und Peter Lorenschat an den Start und wurde ein bemerkenswerter Erfolg.

„Die Provinzialität findet im Kopf statt! Wir sollten uns positiv zu dieser Region stellen und uns die Attraktivität Braunschweigs bewusst machen.“ Richtig so. Diese Sätze schrieben die Verleger Andreas Grosz und Peter Lorenschat 1988 in ihr Editorial des neuen Szene-Magazins LIVING. Sie gelten bis heute unverändert, aber das Magazin gibt es nicht mehr. Leider. Ausgangspunkt für dieses damals neue, in seiner Erscheinungsform avantgardistische Magazin war die bereits wahrnehmbare steigende Attraktivität Braunschweigs hinsichtlich Kultur, Freizeit, Konsum und Architektur in der Verbindung mit Tradition. Ein Pfund mit dem sich wuchern lässt. Immer noch.

Titelseite der ersten LIVING-Ausgabe. Repro: Michael Heinze

LIVING sollte ein Imagemagazin für Braunschweig sein. So hieß es auch unverhohlen auf der Titelseite unter dem in Versalien geschriebenen Titel. Warum auch nicht? LIVING habe mit seinem Team in rund 40 Ausgaben mit wechselnden Schwerpunkten – vier im Jahr – eine knappe Dekade in Braunschweig medial geprägt. „Form und Inhalt sind eine Symbiose eingegangen. Daher das Überformat und die konsequente Ausrichtung des Magazins auf schwarz-weiß“, erläutert Michael Heinze, früheres Redaktionsmitglied, das Designkonzept, für das der Braunschweiger Wolfgang Rühle verantwortlich zeichnete. Später erschien das Magazin auch als Niedersachsen-Ausgabe. Der Erfolg wurde auch durch die Unterstützung der Richard Borek Stiftung ermöglicht.

Seite über die Café Tasse. Repro: Michael Heinze

Für mehr Selbstbewusstsein

„Als Bewohner dieser Stadt betrachtet man vieles als selbstverständlich, dessen man sich erst bewusst wird, wenn Besucher von auswärts einen darauf aufmerksam machen. Das fängt an mit der ungewöhnlich schönen Landschaftsumgebung, die für jedermann schnell erreichbar, eine echte Erholung garantiert, führt über die geschickt konzentrierte Geschäftsballung in der City, in der man alles schnell bekommt, und endet noch lange nicht bei den gepflegten historischen Plätzen“, schrieben Grosz und Lorenschat vor mehr als drei Jahrzehnten als überzeugte und überzeugende Braunschweiger.

Sie konnten nicht verstehen, wie wenig selbstbewusst die Braunschweigerinnen und Braunschweiger waren, wenn es um ihre Herkunft ging. Dabei seien bei weitem noch nicht alle Möglichkeiten in dieser Stadt ausgeschöpft und der Vergleich mit weitaus größeren Städten hinsichtlich der Lebensqualität und Attraktivität sei nicht zu scheuen, schlussfolgerten sie. Auch das trifft heute noch, jenseits der skurrilen, unnötigen und interessengesteuerten Namensdebatten, zu.

Unverändert begeisternd

Heinze, aktuell Initiator einer LIVING-Rückbesinnung, hat im Laufe seiner Recherche einige ehemalige Braunschweiger Weggefährten gesprochen, die auf verschiedenste Weise am Produktionsprozess des Magazins beteiligt gewesen waren. „Nach wie vor anhaltende Begeisterung, soweit das Auge reicht!“, schildert er die Reaktionen.

„Wer erinnert sich nicht gern an die Menschenfotografie von Karen Seggelke (früher Ute Karen Walter), die Macher des Braunschweiger Filmfests, die lukullische Reinhardtshöhe in Salzgitter-Lebenstedt, Nächtliches aus der Café Tasse und Alltägliches aus dem Café Grec, Projektberichte von Architekturbüros, das Wohnstudio Extra mit seinen provokanten Ausstellungen, Stories über aktuelle Braunschweiger Bands, Jazznews von Charles Benecke über Joachim Kühn, Chet Baker und George Bishop, Möbel-Design um Rolf Rahmlow, Jörg Seidel und Beatrix Rose-von Lüpke“, fragt Michael Heinze rhetorisch.

Experimentelle Wege

Für junge Menschen und Junggebliebene sei Braunschweig in der 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts kulturell nicht unbedingt ein ‚Burner‘ gewesen. Aufbruch signalisierten erst die Kulturaktivitäten des café extro, des Varietés SAVOY, die Gründung des Fotomuseums oder des Kommunikationszentrums Brunsviga. „LIVING griff am Ende dieses Jahrzehnts all diese Umwälzungen auf und schickte die Leser in eine Art Versuchslabor für die Wahrnehmung von Kultur. Die Anzeigengestaltung ging experimentelle Wege, provozierte und gewann so manche Neukunden“, erinnert sich Heinze.

Schwerpunktausgaben zu Themen wie „Die Zukunft der Arbeit”, „Ökologie und Ökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts“, „Quo Vadis Design”, „Architektur heute: Hauptstadt Berlin”, „Neue Medien – Neues Denken?”, „Kunst am Ende?”, „Ideen für Europa”, „Die Mediengesellschaft” zeigten, wie früh sich das Magazin mit Zukunftsthemen auseinandersetzte, faktenreiche Inhalte und Diskussionsbeiträge in künstlerischer Gestaltung lieferte.

Für Andreas Grosz war dieses Experiment nach rund zehn Jahren zu Ende. 1994 wurde er als Gründungsgeschäftsführer der ersten großen Weltausstellung in die EXPO 2000 Weltausstellungsgesellschaft berufen. Ein Engagement, das seine volle Aufmerksamkeit erforderte und das eigenständige Publizieren nicht mehr ermöglichte. Es bedeutete gleichsam das Aus für das Kultmagazin LIVING, für das viele gerne 7 D-Mark ausgegeben hatten.

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