Ein Pfarrer, der der Kirche ins Gewissen redet
Dieter Rammler geht als Direktor des Theologischen Zentrums der Landeskirche in Ruhestand. Ein Gespräch über Gott und die Welt.
Gespräche über Gott und die Welt sind mit Dieter Rammler das reinste Vergnügen. Weil der Mann so ganz und gar nicht dogmatisch wirkt. Weil seine Art so angenehm unaufgeregt ist. Und weil er nicht nur reden mag, sondern auch zuhören kann.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 09.07.2021 (Bezahl-Artikel)
Der langjährige Direktor des Theologischen Zentrums der Landeskirche Braunschweig geht nun mit 63 Jahren in den Ruhestand. 21 Jahre lang hat er die öffentlichen Auseinandersetzung mit Theologie und Ethik, Kultur und Wissenschaft in der Landeskirche mitgeprägt. Seit 2010 war er Direktor der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem, die sich als Theologisches Zentrum immer mehr zu einem Ort für Bildung und Begegnung entwickelt hatte.
Ein kritischer Mann der Kirche. Pfarrer Rammler legt den Finger in die Wunden, wünscht sich mehr Aufbruch, mehr Mut zu Veränderungen. Für ihn darf Kirche nicht in der Tradition verharren, sondern muss sich einlassen auf die neuen Bedürfnisse der Menschen. „Als Theologe bin ich ein großer Verfechter eines aufgeklärten Glaubens“, sagt er. Das Überlieferte, Traditionelle müsse in Einklang gebracht werden mit dem Hier und Heute. „Ich habe stets versucht, unserem Nachwuchspredigern beizubringen, dass sie von sich selbst sprechen sollten. Quasi von der Kanzel auf Augenhöhe.“
In der Pandemie kam von der Kirche nur Schweigen
Sein Rat: Erzählt nicht nach! Belehrt nicht! „Das ist bei manchem mit großer Scheu verbunden, zu intim.“ Doch es gehe nicht um Seelenstriptease, sondern darum, über eigene Erfahrungen zu sprechen. Erfahrungen, die beim Zuhörer zu neuen Erfahrungen werden könnten.
Rammler fürchtet um die Kirche. „Was wir an Glaubwürdigkeit verlieren, ist so gewaltig“, sagt er. Corona? „Die Krise hat das Schweigen der Institution offenbart. Die Kirche hatte dazu so wenig zu sagen.“ Dabei müsse sie doch so viel mehr Teil des Ganzen sein. Das kirchliche Leben sei so ausgedünnt, förmlich am Verdunsten. „Es ist Sonntag – und keiner geht hin!“, sagt er und meint das Kirchengebäude. „Öffnen wir alle Kirchen und Kapellen, auch wochentags, überlassen wir sie den Menschen und sehen, was passiert. Den Versuch wär‘s wert.“
Das Christentum ist in den Grundfesten erschüttert
Gerade erst hat Rammler einen Essay veröffentlicht: „Glauben ohne Dogma. Eine Spurensuche“. Darin heißt es etwa: „Nüchtern bilanzierend müssen wir uns heute wohl eingestehen, dass das Christentum zumindest in Mitteleuropa in seinen Grundfesten erschüttert ist. Nach meinem Eindruck hat die überwiegende Zahl derer, die sich als gläubig bezeichnen, große Probleme, überkommene Glaubensvorstellungen mit dem modernen Verständnis von Wirklichkeit in Einklang zu bringen.“
Rammler sieht zwei Lösungswege: „Radikal denken und uns illusionslos dem Gegenwind stellen, unsere Traditionen ohne Hintertürchen dem heutigen Wirklichkeitsverständnis aussetzen, um herauszufinden, was an diesem Glauben standhält und für unser Leben elementar bleibt.“ Einmischen, Mitwirken, nahe an den Menschen und Teil ihrer Lebenswelt sein, das könnte ein Weg sein.
Weg von Rechthaberei und Polarisierung
Rammler setzt grundsätzlich auf den Austausch. Weg von Rechthaberei und Polarisierung. „Die Leute werden heute doch wie Gladiatoren aufeinandergehetzt. Dabei ist ein gepflegter Diskurs gefragt, Offenheit und Inklusion statt Denken in Dogmen und Ausgrenzung.“ Er könne leidenschaftlich böse werden, wenn Menschen diese Regeln verletzten.
Rammler ist sich sicher, dass die Kirche sich verändern muss, will sie überleben. „Es ist Zeit für Experimente“, sagt er. Die Kirche brauche Bewegung und wohl auch ein wenig Ungehorsam. „Ich würde nicht auf eine Genehmigung warten, um ein gemeinsames Abendmahl mit evangelischen und katholischen Christen zu feiern.“ Seine Geduld sei erschöpft. Und irgendwann im Gespräch sagt er auch: „Neues kann nur durch Begegnung mit Fremdem, durch Reibung entstehen.“
Konsum macht nicht satt und glücklich
Viele Menschen hätten eine doktrinäre Form des Christentums erlebt. Diese Zeiten müssten vorbei sein. Auch wenn sich viele von der Kirche abgewandt hätte, seien sie doch auf der Suche nach Spiritualität und Werten.“ „Die Menschen merken, dass der Konsum sie nicht satt und glücklich macht. Und wie wir in Zukunft leben wollen, ist eine Frage, die viele beschäftigt.“
Er sei immer sehr gerne Lehrer und Ausbilder gewesen, betont Rammler. „Und wir konnten mit der Akademie in die Stadtgesellschaft hinein wirken und ein Forum sein.“ Die Kirche als Ort der Begegnung. Das habe ihm immer große Freude bereitet.
Nach dem Krebs die Prioritäten neu gesetzt
Im vergangenen Jahr musste Rammler eine Krebserkrankung bewältigen. Es geht ihm wieder gut. Doch die Prioritäten sind neu gesetzt. Die Familie steht ganz oben auf der Liste. Daher auch der frühe Ausstieg aus dem Amt. Er freut sich nun auf Tage ohne Zeitdruck. Auf morgendliche Hundespaziergänge in aller Muße. Die Krankheit hat ihn abermals Demut gelehrt. Carpe Diem: Nutze den Tag!
„Aber das Leben gibt es auch nicht ohne Tod und Sterben. Wir sind aus Sternenstaub gemacht und werden es wieder.“ Er fühle sich gut, so eingebunden als Teil von etwas Größerem, eingebettet ins Universum. Nein, wir sollten uns nicht zu wichtig nehmen, sagt Rammler lächelnd.
Zur Person
Dieter Rammler übernahm im Jahr 2000 zunächst die Leitung des Predigerseminars der Landeskirche, das für die Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren zuständig war. Seit 2014 erfolgt die Ausbildung im Vikariat mit anderen niedersächsischen Kirchen in Loccum. 2002 engagierte er sich bei der Gründung des Ateliers Sprache und etablierte mit Pfarrerin Ingrid Drost von Bernewitz und Professor Dr. Martin Nicol ein bundesweit geachtetes Institut zur Förderung der Predigtkultur.
Seit 2008 widmete sich Dieter Rammler außerdem der Verleihung des Abt-Jerusalem-Preises, der von der Landeskirche, der Technischen Universität Braunschweig, der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft und der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz verliehen wird. Der Preis würdigt wissenschaftliche Leistungen, die dem Dialog zwischen Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften dienen.
Zu zahlreichen weiteren Projekten zählte auch das Café Kreuzgang und die Entwicklung des Braunschweiger Jakobsweges zwischen Magdeburg und Höxter: eine Kooperation von Landeskirche Braunschweig, Bistum Hildesheim und Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 09.07.2021 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article232744055/Ein-Pfarrer-der-der-Kirche-ins-Gewissen-redet.html (Bezahl-Artikel)