Entdecke den Künstler in Dir!
Wenn die KunstKoffer kommen, kennt die Kreativität keinen Druck.
Als mein Sohn im Kunstunterricht einen Schmetterling tuschen sollte, scheiterte er furios. Warum auch immer. Der Falter sah aus wie ein Müllsack, selbst die farbigen Flügel konnten nicht bestechen, sie sahen aus wie die reine öde Farbfläche. Bestimmt hätte er die Konturen besser hingekriegt, und wenn er weniger luschig getuscht hätte, wäre der Schmetterling im Notenkeller womöglich nicht so krachend abgeschmiert. Er bekam eine 4-, nahm es gelassen und hakte die Kunst als kreatives Spielfeld für sich ab.
Schade eigentlich. Vielleicht wäre er für die selbst gemachte Kunst, für das Schöpfen aus dem eigenen kreativen Potenzial nicht für immer verloren gewesen, wenn er keine 4- kassiert hätte. Wenn Mama nicht gemäkelt hätte. Wenn er die Aktion KunstKoffer kennengelernt hätte.
Die KunstKoffer sind ein Projekt des Kunstvereins Jahnstraße für Kinder, bei dem drei Kriterien ganz groß geschrieben werden: Keine Aufgaben! Keine Vorgaben! Keine Bewertung!
Freitags zwischen 16 und 18 Uhr kommen Kunstpädagogen und Künstler mit Koffern auf den Spielplatz an der Arndtstraße und bieten den Kindern des Viertels und allen, die gern mitmachen möchten, verschiedene Materialien und Werkzeuge an. „So werden die Kinder ermutigt, sich gestalterisch auszuprobieren“, erklärt Thurid Manleitner, die diesen künstlerischen Prozess seit 2016 ehrenamtlich begleitet und an der HBK Freie Kunst studiert.
Man kennt das ja noch von den eigenen Eltern, die einen gelegentlich mit der sanften Aufforderung „mal doch mal eine Blume oder eine Sonne“ in die kreative Enge trieben. Nett gemeint, bestimmt, aber das Konzept der KunstKoffer ist anders: „Die Kinder haben doch ganz oft eigene Ideen im Kopf. Oder sie entwickeln angesichts der Materialien aus den Koffern Ideen“, so Manleitner. Viele kommen ja auch mit Minderwertigkeitskomplexen – Stichwort: Schmetterlingsdesaster – und dem Gefühl: „Ich kann das eh nicht.“ Es gelte solche Zweifel abzubauen und Zutrauen zu gewinnen. Wenn Kinder sich „als selbst schaffendes Individuum wahrnehmen“, fördert das nicht nur die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, sondern auch das kreative Denken. „Bei uns lernen die Kinder, dass ihre Darstellung, ihre Kunst in Ordnung ist, dass jede Ästhetik ihre Berechtigung hat, dass man anderen Positionen mit Toleranz und Respekt begegnet.“ Hänseln nach dem Motto „wie doof sieht das denn aus“ gibt es nicht.
Als ich die KunstKoffer besuche, habe ich das Gefühl, eine kunterbunte Spielwiese zu betreten. Die Koffer sind wie Wundertüten, aus denen Allerlei hervor quillt: es gibt Papier, Pappe, Stifte und Pinsel, Gouache-Farben, Wolle, Stoffreste und Leder, aber auch Ton, Holz, Muscheln aus dem Rhein, Schifferstückchen und einen Werkzeugkoffer. Sogar Wasser, Handtücher und Malerkittel. Es gibt alles – außer Druck. Lana bemalt gerade einen Vogel, David hämmert aus Holzresten ein Gewehr zusammen. Sophia Hamann, ebenfalls Studentin der HBK, sieht das durchaus auch kritisch, aber sie bewertet es nicht. Solange er nicht durch die Gegend läuft und rumballert, wird sie ihn gewähren lassen. Wird später vielleicht noch mal mit ihm über sein Kunstwerk reden.
Schließlich sollen die Kinder tatsächlich ihre eigenen Ideen entwickeln und verfolgen dürfen, sich ganz eigenständig Ziele stecken und diese verwirklichen. Der Kunstpädagoge unterstützt die Kinder allenfalls bei ihren Vorhaben, hilft, wenn technische oder gestalterische Probleme auftauchen.
Das Projekt gibt es in Braunschweig seit sechs Jahren, es breitete sich von Wiesbaden ausgehend seit 2004 bundesweit aus. Die KunstKoffer sind ein niederschwelliges Angebot, so dass auch Kinder aus bildungsfernen Schichten keine Zugangsschwierigkeiten haben. Ohne Geld, ohne Anmeldung und am besten auch ohne Mama oder Papa im Schlepptau kann jeder mitmachen. So sind die KunstKoffer auch ein Projekt an der Schnittstelle von ästhetischer Bildung und sozialem Engagement. Sie sind Teil der bundesweiten Initiative „Die KunstKoffer kommen“ www.kunst-koffer.de
Vor der geplanten Kinderkunstausstellung im Herbst wird es einen Intensiv-Workshop geben, in dem die Kinder bei der Vorbereitung ihrer Ausstellung mitwirken.
Unterstützt wird das Projekt unter anderem von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.
Mehr zu der Braunschweiger Initiative unter
https://kunstvereinjahnstrasse.wordpress.com/kunstkoffer/
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