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Fachwerkparade an der Langen Straße

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Verschwundene Kostbarkeiten, Teil 17: Ersterwähnung im Jahr 1320 als „longa platea“.

Die Lange Straße zieht sich heute als breiter Straßenzug durch die nördliche Braunschweiger Innenstadt. Sie ist Bestandteil des in den 1960er und 70er Jahren im Rahmen des verkehrsgerechten Stadtumbaus geschaffenen Kerntangentenvierecks und verbindet den Radeklint über Küchenstraße und Hagenbrücke mit dem Hagenmarkt. Die vierspurige Straße mit Straßenbahnlinie bildet eine starke Zäsur und trennt den Nordteil des Stadtzentrums und damit das historische Weichbild Neustadt von der geschäftigen Stadtmitte.

Gebäude aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind hier nicht mehr zu finden, lediglich der spitze Turm der Petrikirche wirkt über die Nachkriegsbauten hinweg in den Westteil der Langen Straße. Vor der berüchtigten Bombennacht vom 14./15. Oktober 1944 zeigte sich der enge Straßenzugzug mit dichter Bebauung – und wurde so das Opfer eines alles verzehrenden Feuersturms.

Reich beschnitzte Fassaden

Blick in die Lange Straße von Westen, 2023. Foto: E. Arnhold

Die einst schmale und geradezu schluchtartig wirkende Straße machte ihrem Namen alle Ehren. Sie wurde 1320 erstmals als „longa platea“ erwähnt. Ihr Verlauf folgte der einstigen Befestigung an der Nordseite des Weichbildes Altstadt, wobei sie selbst zur Neustadt gehörte. Nach Gründung dieser Teilstadt im frühen 13. Jahrhundert verschwand die dortige Befestigung, welche durch archäologische Ausgrabungen vor dem Bau des Pressehauses nachgewiesen werden konnte. Fast sämtliche Parzellen mit ihren Hausnummern von 1 bis 72 waren bis 1944 mit Fachwerkbauten besetzt. Dort reichte die Bandbreite von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis in die Jahre um 1800. Ein Großteil der Häuser stammte aus dem 16. Jahrhundert und gehörte somit zu den Bürgerhäusern aus der Renaissancezeit. Ganze Ensembles von Bauten mit reich beschnitzten Fassaden reihten sich aneinander.

Die bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges entstandenen Fachwerkhäuser entsprachen dem Bautyp des städtischen Dielenhauses. Die Häuser waren traufständig mit der Dachseite zur Straße ausgerichtet und schlossen mit steilen Satteldächern ab. Das Erdgeschoss beinhaltete die Diele, von der seitlich ein Wohnbereich mit Stube und Kammer abgeteilt war. Hohe Dielen konnten ein Zwischengeschoss aufnehmen, das über eine Treppe mit Galerie erschlossen war. Hinter der Stube befand sich die Küche mit offener Feuerstelle. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die hohen Dielen zumeist vollständig mit Zwischengeschossen verbaut – was dort häufig zu unzureichenden Stockwerkshöhen führte. In den auskragenden Obergeschossen befanden sich ursprünglich fast ausschließlich große Speicherräume, die bei manchen Häusern durch hölzerne Lüftungsgitter (an Stelle späterer Fenster) noch erkennbar waren. Die Waren wurden über Ladeluken und in den Dachräumen eingebauten Windevorrichtungen eingelagert. Fast sämtliche Speicher wurden seit dem 18. oder 19. Jahrhundert zu Wohnzwecken ausgebaut.

Lange Straße von Osten mit dem Eckhaus Alte Waage 1 (rechts), um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Norddeutsches Renaissancefachwerk

Die Häuser der Langen Straße vertraten den Dielenhaustyp in sämtlichen Variationen. Konstruktion und Fassadenschmuck verrieten das Baualter: Häuser mit sehr weit auskragenden Oberstöcken und noch wenig ausgeprägten Schnitzereien gehörten in die älteste Schicht von Bauten aus der Zeit vor oder um 1450. Es folgten die spätgotischen Beispiele mit ihren durch Treppenfriese verzierten Schwellbalken. Einige der kostbarsten Hausfassaden waren mit Rankenwerk und – an einem Beispiel (Lange Straße 67) – maßwerkähnlichen Motiven nach dem Vorbild gotischer Kirchenfenster dekoriert. In den 1530er und 40er Jahren wurde das Leitmotiv des norddeutschen Renaissancefachwerks aktuell: die Fächerrosetten. Schließlich folgten die Verzierungen mit Wellen- oder Facettbändern und Dekorationen nach Vorbildern des zeitgenössischen Steinbaus. In der Barockzeit wurden die Fassaden schlichter und ohne Vorkragungen verzimmert, sie sollten nun ganz deutlich die Steinarchitektur des 18. Jahrhunderts nachahmen.

Greifen wir einige verschwundene Perlen der Braunschweiger Fachwerkkunst heraus. Zu den ältesten Bürgerhäusern zählte das Eckhaus Alten Waage 1 / Lange Straße. Es wies ein massives Erd- und Zwischengeschoss auf, darüber kragte der spätgotische Speicherstock mit Treppenfriesen aus der Zeit um 1470/80 vor.

Das Haus Lange Straße 9 gehörte zu den großartigsten Holzbauten der Löwenstadt. Das 1536 errichtete Dielenhaus besaß zwei noch komplett intakte Speicherstöcke mit Lüftungsgittern und Ladeluken. Das Dielentor und die Speicher waren überreich mit Schnitzereien der Frührenaissance verziert. Erstmals traten hier in Braunschweig Fächerrosetten in Erscheinung. Sie waren mit Masken und weiterem Dekor angereichert. Die Schnitzereien atmeten den Duktus der noch reicheren Verzierungen am Huneborstelschen Haus am Burgplatz (Handwerkskammer). Neben dem Dielentor war die Fassade in der Barockzeit massiv erneuert worden.

Lange Straße 9, Nordfassade, um 1900. Foto: Stadtarchiv

Mit Fabelwesen verziert

Das ebenso stattliche Haus Lange Straße 45 stammte vermutlich ebenfalls aus den 1530er Jahren. Die Schwellbalken der beiden Speicherstöcke waren mit einem noch spätgotischen Laubgewindestab und mit Fabelwesen sowie Rankenwerk verziert. Das Dielentor hingegen zeigte eine qualitätsvolle barocke Portalarchitektur aus Holz.

Der Langen Straße 9 gegenüber stand eine Reihe von Häusern aus den Jahren um 1540/50: Nr. 66 bis 69. Bei dem großen Haus Nr. 66 waren die Fächerrosetten in Miniaturformat auf dem Schwellbalken des Speichergeschosses angebracht. Sehr ähnlich präsentierte sich das markante Haus Lange Straße 60. Reicher verziert war das Fachwerk von Nr. 67: Hier erstreckten sich Maßwerkmotive über Schwelle und Fußdreiecke der Brüstungen des Speichers – reich garniert mit Rankenwerk. Haus Lange Straße 68 zeigte wiederum Fächerrosetten, hier besonders großformatig und opulent.

Dieser Überblick zeigt nur eine kleine Auswahl der einstigen Fachwerkpracht dieses Straßenzuges. Er verdeutlicht: Die historischen Bürgerhäuser gehorchten einem Grundprinzip, stellten sich jedoch immer als Individuen dar. Vielfalt in der Einheit und Einheit in der Vielfalt …

Elmar Arnhold ist Bauhistoriker (Gebautes Erbe) und Stadtteilheimatpfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröffentlicht er regemäßig Beiträge zu historischen Bauten in Braunschweig.

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