Ihr Blick auf die Menschen beschönigt nichts
Lessing-Akademie Wolfenbüttel und die Braunschweigische Stiftung werden den Lessing-Preis für Kritik 2018 an die österreichische Dokumentarfilmerin Dr. Elizabeth T. Spira verleihen.
Mit Dr. Elizabeth T. Spira wird nach Dieter Wieland erneut eine Dokumentarfilmerin den Lessing-Preis für Kritik erhalten. Die renommierten Auszeichnung verleihen die Lessing-Akademie Wolfenbüttel und die Braunschweigische Stiftung seit der Jahrtausendwende im zweijährigen Rhythmus. Die Jury würdigt Spira für ihre Reportage-Reihen „Alltagsgeschichte“ (1985 – 2006) und „Heiratssachen“ (seit 1997) im Österreichischen Rundfunk (ORF). Die Preisvergabe findet am 13. Mai 2018 in der Augusteerhalle der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel statt.
In der Begründung der Jury heiß es: Elizabeth T. Spiras Blick auf den Menschen beschönige nichts, er verdecke keine Schwächen, Wunderlichkeiten, selbst Vulgaritäten. Immer wieder thematisiere sie das den Menschen vorenthaltene Glück, die unerfüllte promesse du bonheur. Dabei führe sie das Personal ihrer Filme nicht vor, gebe es nie der Lächerlichkeit preis. Mit dem Preis wird, nach dem Vorbild Lessings, Kritik in einem elementaren, fachübergreifenden, auch gesellschaftlich wirksamen Sinn gewürdigt. Ausgezeichnet wird eine bedeutende, geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige kritische Leistung.
Die Jury stellt in ihrer Begründung auch die Verbindung zwischen Lessing und der 75 Jahre alten Spira her. Lessing habe in der Hamburgischen Dramaturgie von 1767 bis 1769 die Achse vom Verlachen zum Lachen gewendet. Die Komödie sollte den Zuschauer durch Lachen bessern, läutern. „Das darin an den Aufklärer erinnernde Werk Elizabeth T. Spiras ist illusionslos, von schneidender Schärfe, ohne didaktischen Schwung. Aber in der Darstellung menschlicher Einsamkeit, seiner Suche nach Glück, Gemeinschaft, Geborgenheit liegt auch ein untilgbares Moment der Utopie“, führt die Jury weiter aus.
Sie sieht Elizabeth T. Spira bei ihrer schonungslosen österreichischen Selbstbetrachtung ebenso in der Tradition von Autoren wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek. Die Resultate Spiras seien so brisant, heißt es weiter in der Begründung, dass etwa ihre Aufnahmen von Stammtischgesprächen unter dem Titel „Am Stammtisch“ mit ihren allgegenwärtigen Rassismen und Antisemitismen erst 28 Jahre nach dem Entstehen, im Jahr 2016, gesendet wurden. Spira, 1942 als Kind jüdischer Einwanderer in Glasgow geboren, bestand auf die Ausstrahlung und wurde deswegen kurzzeitig beurlaubt.
Die Laudatio auf Elizabeth T. Spira wird auf ausdrücklichen Wunsch der Preisträgerin Dr. Franz Kössler halten. Er war viele Jahre Auslandskorrespondent des ORF in Moskau, Washington und London. Aktuell nimmt er einen Lehrauftrag in Innsbruck am Institut für Politikwissenschaft mit den Forschungsschwerpunkten Medien und Internationale Berichterstattung wahr.
Zur Besonderheit des Preises zählt, dass der jeweilige Preisträger einen Förderpreisträger benennen darf. Die Wahl Elizabeth T. Spiras fiel auf Stephanie Panzenbröck. Die 33 Jahre alte Publizistin arbeitet im Feuilleton der Wiener Stadtzeitung „Falter“ mit dem Schwerpunkt Kulturpolitik. Der Preis ist insgesamt mit 20.000 Euro dotiert. 5.000 Euro davon gehen stets an die jeweiligen Förderpreisträger.
Zur Jury gehörten die Publizistin Dr. Franziska Augstein, die Romanistin Prof. Dr. Ulrike Sprenger, der Leiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt Braunschweig Prof. Dr. Joachim Block, der Hallenser Germanist Prof. Dr. Daniel Fulda, Prof. Dr. Cord-Friedrich Berghahn, Germanist und Präsident der Lessing-Akademie Wolfenbüttel und der Direktor der Herzog August Bibliothek, Prof. Dr. Peter Burschel.
Die bisherigen Preisträger und Förderpreisträger:
2000: Karl Heinz Bohrer / Michael Maar
2002: Alexander Kluge / St. Petersburger Cello-Duo
2004: Elfriede Jelinek / Antonio Fian
2006: Moshe Zimmermann / Sayed Kashua
2008: Peter Sloterdijk / Dietmar Dath
2010: Kurt Flasch / Fiorella Retucci
2012: Claus Peymann / Nele Winkler
2014: Hans-Ulrich Wehler/Albrecht von Lucke
2016: Dieter Wieland / Thies Marsen (2016)
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