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Im Schatten von St. Martini

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Verschwundene Kostbarkeiten, Folge 30: Heydenstraße, Sonnenstraße und Turnierstraße

Die Traditionsinsel Altstadtmarkt verkörpert das einstige bürgerlich-patrizische Zentrum der Hansestadt Braunschweig. Martinikirche, Altstadtrathaus, Marienbrunnen und Gewandhaus gehören zu den hochbedeutenden mittelalterlichen Baudenkmälern der Löwenstadt. Nach den gravierenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges konnten der historische Markt der Altstadt und das Umfeld von St. Martini wiederhergestellt werden. Zwar nicht in der alten Form, aber auch die Neugestaltungen zeigen einen traditionsbewusst-schöpferischen Umgang mit baukulturellen Werten.

Im Schatten des romanischen Turmwerks von St. Martini existierten neben den erhaltenen oder wiederaufgebauten Denkmälern weitere nicht mehr vorhandene Bauten von hohem Rang. Sie kündeten von der sozialen Stellung des im Zentrum des Weichbildes Altstadt gelegenen Quartiers. Die Anlage von Altstadtmarkt und Kirchhof reicht in das 12. Jahrhundert zurück. Die rechteckigen Umrisse der Platzfolge von Markt und Kirchplatz weist auf die planmäßige Entstehung dieser Gesamtanlage hin. Sie ist in der Literatur zur Stadtbaugeschichte des Mittelalters mehrfach als exemplarisch herausgehoben worden.

Ehemaliges Portal An der Martinikirche 5, heutige Situation. Foto: E. Arnhold

Querschnitt der Baugeschichte

Es liegt nicht nur an den Folgen des Zweiten Weltkrieges, dass heute zahlreiche der bemerkenswerten Häuser im Umkreis von St. Martini nicht mehr existieren. Schon der Bauboom der „Gründerjahre“ nach 1871 hat Lücken in den Bestand gerissen. So fiel das markante Eckhaus An der Martinikirche 5 gegenüber der wuchtig aufragenden Kirchenfassade bereits 1888 dem Abbruch anheim – das prächtige Renaissanceportal wurde immerhin an ein Nebengebäude des Altstadtrathauses versetzt. Das Haus präsentierte sich als mächtiger dreigeschossiger Bruchsteinbau, in dessen Giebel zur Sonnenstraße noch Säulenfenster aus dem 13. Jahrhundert erhalten waren. Das Anwesen wurde in der Zeit um 1600 (Portal) und ein Jahrhundert später noch einmal barock umgebaut. Auf letztere Neugestaltung gingen die Bogenfenster im Erdgeschoss (Messgewölbe) und das Fachwerk-Zwerchhaus mit Ladeluke und Windenanlage zurück. Ein Haus, das sich als Querschnitt durch die Baugeschichte unserer Stadt präsentierte.

Zeittypische Backsteinarchitektur

Mit kostbaren Baudenkmälern wartete auch die Heydenstraße auf. Die kurze Straße ist nachweislich seit 1391 nach der Patrizierfamilie von der Heyde benannt und verbindet Martinikirchhof mit Güldenstraße. An ihrer Südseite stand bis zum Abbruch in den 1880er Jahren ein spätmittelalterlicher Fachwerkbau mit steinernem Unterbau, der Fachwerkstock war mit der Jahreszahl 1470 datiert. Mit seinen Nebengebäuden bildete das Anwesen Heydenstraße 2 einen ausgedehnten Hofkomplex. Anschließend an das Vorderhaus erstreckte sich ein ungewöhnlich langer Flügelbau mit reichem Schnitzwerk der Frührenaissance (Baujahr 1531). Den südlichen Abschluss des Hofes bildete ein wiederum älterer Speicherbau mit hoch aufragendem Satteldach. Die Gebäude beherbergten seit dem beginnenden 18. Jahrhundert bis zum Abbruch das Stift St. Thomae. Heute steht dort die 1887 errichtete ehemalige Mädchenmittelschule in zeittypischer Backsteinarchitektur (heute Volkshochschule Braunschweig).

Turnierstraße 8, Kemenate Heydenstraße, um 1900. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Ein Opfer der Kriegszerstörungen hingegen wurde die Eckbebauung der Heydenstraße zur Turnierstraße. Das Vorderhaus Turnierstraße 8 war laut Inschrift 1507 entstanden und zeigte an den Schwellbalken des vorkragenden Obergeschosses Treppenfriese. Es bildete als Fachwerkhaus einen besonderen Akzent in der repräsentativen barocken und klassizistischen Nachbarschaft am einstigen Kirchhof – die einstige Fürstliche Kammer (1764) und das 1990-94 wiederaufgebaute Landschaftliche Haus (Amtsgericht) prägen das Platzbild nach wie vor. Auf das spätmittelalterliche Eckhaus folgte an der Heydenstraße die zugehörige Kemenate. Sie bildete wieder eine Collage Braunschweiger Baugeschichte. Das im 13. Jahrhundert errichtete Steinwerk erhielt im Erdgeschoss zu Beginn des 16. Jahrhunderts Fenster mit Vorhangbögen, während das erste Stockwerk im Stil der Spätrenaissance erneuert wurde. Damit entstand um 1600 auch das reich beschnitzte Obergeschoss aus Fachwerk.

Bemerkenswerte Fakten

Bis heute erhalten blieb an der Heydenstraße das größte mittelalterliche Steinhaus der Stadt, welches zu den Gebäuden des Staatlichen Baumanagements An der Martinikirche 7 gehört. Das Alter des Bauwerks ist an der mit einem Renaissanceportal ausgestatteten Fassade jedoch nicht mehr erkennbar, da im 18. Jahrhundert die letzten Säulenfenster beseitigt wurden. Die mächtigen Balken eines dortigen Kellerraums konnten dendrochronologisch mit 1274 datiert werden. Es zeigt sich, dass baugeschichtliche Forschung auch in einer stark zerstörten Stadt wie Braunschweig noch immer bemerkenswerte Fakten schaffen kann.

Mittelalterliches Steinhaus Heydenstraße, Südwestansicht. Foto: E. Arnhold

Schönes Renaissanceportal

Ein weiteres altes Steinhaus ist in Sichtweite von St. Martini mit Turnierstraße Nr. 6 erhalten geblieben. Es konnte in den um 1990 errichteten Komplex der Staatsanwaltschaft einbezogen werden und zeigt ein schönes Renaissanceportal. Spektakulär ist der leider nicht zugängliche Gewölbekeller mit seinen wuchtigen Rundpfeilern. Unwiederbringlich verloren ist dagegen der ungemein reizvolle Hof von Turnierstraße 6. Historische Fotografien zeigen, dass die aus der Renaissancezeit stammenden Fachwerk-Speicherbauten bis in die 1940er Jahre ihrem ursprünglichen Zweck dienten.

Sonnenstraße 4, Hofsituation, um 1880. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Ein ähnlich malerischer Innenhof erschloss sich hinter dem stattlichen Renaissance-Fachwerkhaus Sonnenstraße 4. Eines der großen Hofgebäude aus dem 16. Jahrhundert besaß eine hölzerne Freitreppe mit kleiner Hofgalerie – eine in vorindustriellen Zeiten wohl gar nicht so seltene Situation in der alten Stadt. Solche Hofanlagen werfen den Blick selbstverständlich auch auf die einst beengt-bescheidenen Wohnverhältnisse besonders der ärmeren Bevölkerungsschichten, die in den alten Quartieren der Innenstadt leben mussten. In der heutigen Zeit wären derartige Ensembles in saniertem Zustand hingegen eine Attraktion ersten Ranges … Große Teile der Hofbebauung waren jedoch schon um 1900 abgebrochen worden.

Elmar Arnhold ist Bauhistoriker (Gebautes Erbe) und Stadtteilheimatpfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröffentlicht er regelmäßig Beiträge zu historischen Bauten in Braunschweig.

 

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