Ines Geipel in Braunschweig: Was Diktatur mit Menschen macht
Ein Gespräch mit Lessing-Preisträgerin Ines Geipel über verdrängte Erfahrungen, den Osten und die AfD.
Leistungssportlerin in der DDR, Doping-Opfer, Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin im vereinigten Deutschland – Ines Geipel erhielt 2020 für ihre Romane, Essays und literarischen Sachbücher, zuletzt „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“ den Lessing-Preis für Kritik, den die Lessing-Akademie Wolfenbüttel mit der Stadt Wolfenbüttel und der Braunschweigischen Stiftung vergab.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 08.10.2021 (Bezahl-Artikel)
Gewürdigt wurden dabei „brillante Prosa“ wie auch eine Bearbeitung von „Erfahrungen als gesellschaftliche Psychogramme“. Jetzt ist die Preisträgerin Gast eines Leserforums der Braunschweiger Zeitung gemeinsam mit der Lessing-Akademie und der Braunschweigischen Stiftung. Hierfür sind alle Plätze bereits vergeben. Wir sprachen mit Ines Geipel.
So viele Leben in einem, so viel Geschichte, so viele Geschichten. Mit welchem zentralen Satz möchte sich eine Ines Geipel vorstellen?
Als stolze Trägerin des Lessing-Preises für Kritik bleibe ich ganz bei Lessing und sage: grundsätzliche Offenheit gegenüber der Zeit und dem Publikum. Lessing hat sich ja auch in die Zeit geworfen, sich immer an ihr gerieben, an ihr rumgedacht und gute Wörter für das gefunden, was ihm schier den Verstand geraubt hat. Das könnte ich schon auch versuchen.
Ihre Biographie ist mit den spannendsten, verletzendsten und sogar glücklichsten Themen der neueren deutschen Geschichte verbunden. Welche dieser Rollen ist für Sie die wichtigste?
Man ist ja nur ein Mal da. Ich kann mich nicht teilen in verschiedene Rollen. Ich bin das, was ich bin und eben keine Teddy-Variante. Das heißt, Kritik, Reibung, Widerspruch – das ist für mich etwas Essentielles. Und das tue ich vor allem als Schriftstellerin. Und, ja, die hat verschiedene Themen. Und vor allem: viele Fragen.
Gibt es für die Schriftstellerin auch so etwas wie eine Gnade, gerade in solche Zeiten geworfen zu sein? Solche unfassbaren Menschengeschichten, ist das nicht auch Literatinnenglück? Oder gehe ich mit dieser Frage zu weit …
… na ja, zumindest ist es irre viel Stoff. So viel, dass es für ein kleines Menschenleben absehbar nicht reicht. Dabei ist und bleibt es so, dass der Dreh- und Angelpunkt meiner Lebens der Herbst 1989 gewesen ist. Das Glück der Öffnung. Das Glück, noch einmal ganz neu starten zu können. Zur Welt dazugehören zu dürfen. Eine Diktatur zu überwinden. Und das war ja auch eine ganz persönliche Frage: Wie wird man die Diktatur-Muster los, wie geht das, sich aus all dem rauszuarbeiten? Mein Start war ja doch mehr als ungut: in einer hochbelasteten kommunistischen Familie.
Nach 1989 habe ich es immer als ein großes Glück verstanden: veröffentlichen zu dürfen, sich überhaupt äußern zu dürfen, auch in dem Versuch einer Versöhnung zwischen Ost und West. Der Versuch, sich zu verstehen – da sind wir ja noch immer mittendrin. Im Moment scheint der Trend ja eher in die andere Richtung zu gehen, in das Unglück des Nichtverstehens.
Sie stellen die These auf, dass in der verdrängten Aufarbeitung von Totalitarismuserfahrungen letztlich Komplexe begründet sind, Verhalten, das bis heute Probleme aufwirft. Ihr Vater war, wie Sie berichten, als Stasi-Agent fast 15 Jahre lang mit acht verschiedenen Identitäten an vorderster Front in der Bundesrepublik aktiv. Die Familie erfuhr davon nichts, Sie selbst haben diese Verdrängungserfahrung gemacht.
In meinem Buch „Umkämpfte Zone“ habe ich versucht, das noch etwas weiter zu fassen. Es geht ja nicht nur um DDR-Geschichte. Es ist für mich diese Wucht der Doppel-Diktatur im Osten. Heißt, ich kann mir nicht erlauben, nur auf den Vater zu schauen. Es gibt auch die Großväter, die beide in der SS waren.
Sicher, nicht alle waren Stasi oder SS, aber der Druck auf die Familien im Osten war letztlich für alle gleich. Der Osten war eine komplett durchherrschte Gesellschaft, mit Angst, Verrat, viel Gewalt. Und das ist uns bislang nicht gelungen, das wirklich gesellschaftlich anzuschauen. Wir wollten, was man psychologisch ja verstehen kann, nach 1989 vor allem die glückliche Einheitserzählung.
Der Osten wollte vergessen, im Grunde vor sich fliehen. Die Infrastruktur der Seelen war kein Thema. Diese unglaubliche Last der Geschichte haben wir rausgeschoben. Ja, stimmt, das ist eine meiner Thesen, dass ich sage: Es ist tatsächlich eine der Ursachen für den entzündlichen Stoff, den wir da im Osten gerade vor die Füße geschmissen kriegen. Ich meine, das Erstarken des Rechtsradikalismus und der AfD.
Tiefenpsychologie als Erklärungsmuster für Politik? Da hat es die Tagespolitik ziemlich schwer.
Sicher, und da ist es eben schon nicht unwichtig, was Politiker zum Beispiel an einem 3. Oktober, dem Einheitstag, sagen. Und was eben nicht gesagt wird. Auch an diesem 3. Oktober spielte die Geschichte der Opfer des Ostens erneut keine Rolle. Und dabei wissen wir es ja: Die Opfer sind am Ende immer das Maß. Diese öffentliche Verleugnung, die wir uns leisten, weil es einen bestimmten Mainstream gibt, weil es eine Stimmung im Land gibt, weil man Angst vor den Wählern hat, sie produziert natürlich auch ein gewisses politisches Klima.
Und es strahlt zurück auf Familie und Gesellschaft. Das sind kommunizierende Röhren, die letztlich immer noch durch die verschiedenen Entlastungserzählungen nach 1989 beeinflusst sind. Der Westen hat da in meinen Augen zu viel Rücksicht genommen! Umso bemerkenswerter, da die alte Bundesrepublik ja doch schmerzhafte Erfahrungen damit gemacht hat, was es gesellschaftlich bedeutet, wenn die Opfer eben nicht in die Mitte einer Gesellschaft gerückt werden. Und wenn wir von den Opfern im Osten reden, dann sprechen wir von drei Millionen Menschen. Das ist eine Zahl!
Menschen, die durch die SED-Diktatur ums Leben kamen, inhaftiert, verletzt, traumatisiert …
… durch das SED-Unrecht. Das sind die offiziellen Zahlen der Opferverbände. Menschen, die im Gefängnis gesessen haben. Opfer von Zersetzung und Überwachung. Opfer der Mauer. Eine halbe Million allein in den Kinderheimen, Spezialheimen und Jugendwerkhöfen.
Auch behinderte Menschen. Psychiatrieopfer. Verfolgte Künstler. Opfer von medizinischem Missbrauch und des staatlichen Dopings. Nur, um es etwas plastisch zu machen. Und da sind wir noch gar nicht am Ende. Die Aufarbeitung des SED-Unrechts ist ja noch im vollen Gange.
Es gab auch Wiedergutmachung, Entschädigungen. Wie hätte man es besser machen können?
Öffentliche Aufmerksamkeit und Aufklärung! Warum sitzen die Opfer nicht am 3. Oktober bei der Einheitsfeier in Halle in der ersten Reihe? Oft werden sie gar nicht erst eingeladen. Und wenn Sie von Entschädigung sprechen, sind das ja fast immer diese 10.500 Euro.
Das ist nicht nichts, klar, aber am Ende nur eine Geste. Damit kann man ein Leben, eine kaputtgemachte Kindheit, die Belastungen in der Familie, die Krankheit, die beruflichen Nachteile, weil man die Ausbildung zu DDR-Zeiten nicht machen konnte und letztlich diese gesellschaftliche Vollstigmatisierung – man war ja für immer gezeichnet –, schlicht nicht heilen.
Von dieser Härte macht sich die Gesellschaft nach wie vor keinen Begriff. Mir geht es dabei nicht um einen Vorwurf, sondern darum, gemeinsam zu verstehen, was dem Osten so sehr nachhängt und dass es nicht besser wird, wenn wir das abwehren und ausblenden.
Wenn solche gesellschaftlichen Heilungsprozesse gar nicht angegangen, verweigert oder verpfuscht werden, so eine weitere Ihrer Thesen, macht das Populisten an den Rändern stark, zum Beispiel die AfD?
Ja, Traumata destabilisieren eine Gesellschaft enorm. Das wissen wir ja, nur bin ich nicht der Meinung, dass das allein die Sache des Ostens ist. Wir sind jetzt 31 Jahre vereint. Wir stemmen diesen schweren Klumpen nur, wenn wir das gemeinsam angehen. Indem beispielsweise der Westen diese Prozesse aktiv einfordert und fördert. Er hatte doch auch seine Schweigezeit, aber spätestens nach 1968 passierte was.
Erinnerungspolitisch sind wir im Grunde heute im Jahr 1976. Schon im Jahr 1976! Wie lange wollen wir noch warten? Wie hoch sollen die AfD-Zahlen im Osten noch gehen? Wenn ich auf meinen Lesungen bin, höre ich in Neubrandenburg oder Dresden oft: „Die da drüben“. Sitze ich irgendwo im Wendland oder in Heidenheim, heißt es aber auch: „Die da drüben“. Wir können doch nicht ewig mit dem Finger aufeinander zeigen und warten, dass was passiert. Diese Unwucht ist unser aller Ding, auch die AfD im Osten ist ein gesamtdeutsches Ding. Das ist, um im Bild zu bleiben, wie eine Doppelhelix von Gedächtnis. Es ist ja klar, dass es schwierig ist. Aber die Einheit war ein riesiger Glücksfall, im Grunde historische Gnade. Es geht nicht, dass wir sie verspielen.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen am 08.10.2021 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article233533403/Ines-Geipel-in-Braunschweig-Was-Diktatur-mit-Menschen-macht.html (Bezahl-Artikel)