Ines Geipel mit Lessing-Preis geehrt
Lessing-Akademie in Wolfenbüttel würdigt die literarischen Leistungen der ehemaligen DDR-Spitzensportlerin als Kritikerin von SED-Diktatur, Staatsdoping und Unterdrückung.
Die Autorin und Publizistin Ines Geipel hat den Lessing-Preis für Kritik erhalten. Anfang der 1980er-Jahre war sie Mitglied der DDR-Nationalmannschaft für Leichtathletik und stellte 1984 mit ihrer 4×100-Meter-Vereinsstaffel einen Weltrekord auf. Nach einer im selben Jahr gescheiterten Flucht musste sie „Zersetzungsmaßnahmen“ erdulden und ihre Sportkarriere beenden. Geipel studierte Germanistik und stand mit Oppositionsgruppen in Kontakt. 1989 floh sie schließlich über Ungarn aus der DDR. Staatlich verordnetes Doping und Unterdrückung in der DDR sind ihre publizistischen Schwerpunkte. Heute ist Ines Geipel Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.
Seit dem Jahr 2000 verliehen
Der Preis wird seit dem Jahr 2000 von den Kooperationspartnern Die Braunschweigische Stiftung und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel alle zwei Jahre vergeben. Seit diesem Jahr ist die Stadt Wolfenbüttel als dritter Partner mit dabei. Der Preis zeichnet eine bedeutende, geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige kritische Leistung aus. Es gehört zu der Besonderheit des Preises, dass der Preisträger einen Förderpreisträger eigener Wahl bestimmt. Dotiert ist der Lessing-Preis für Kritik mit insgesamt 20.000 (15.000 und 5.000) Euro.
Gegen das Verschweigen
Von dem schmerzhaften Ausgangspunkt eigener Erfahrung wendet sich Ines Geipel gegen das Verschweigen und Verdrängen des DDR-Staatsdopings mit ihren psychosozialen Folgen, die Athleten bis heute ertragen müssen. „In ihren Romanen, Essays und literarischen Sachbüchern hat sie es verstanden, die Erfahrungen des Einzelnen immer auch in ihrer politisch-historischen Dimension und als Resonanzraum für die Gegenwart zu erörtern“, heißt es in der Jury-Begründung.
Als Literaturwissenschaftlerin habe sie sich für die Rehabilitierung von Autorinnen und Autoren in der DDR eingesetzt, die aus politischen Gründen „unsichtbar“ gemacht wurden. Diese Arbeit mündete vom Jahr 2000 an im Aufbau der „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“. Die komplexen Zwänge einer Diktatur mit ihren zersetzenden Wirkungen auf den Einzelnen sind Thema ihrer Romane „Das Heft“ (1999), „Heimspiel“ (2005) und „Tochter des Diktators“ (2017).
Verstrickungen der eigenen Familie
Im Frühjahr 2019 erschien „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, ein historiographisch und familienbiographisch angelegter Großessay“. Ausgangspunkt sind die Verstrickungen der eigenen Familie in die Holocaust-Verwaltung, die SS, die Stasi. Geipel beschreibt eine Geschichte des Mitmachens und Verdrängens, die, weil sie nie zur Sprache kam, auch die Folgegenerationen deformierte. Es sind Schäden, die nach der Implosion der ostdeutschen Diktatur dem Aufbau einer offenen und partizipativen Demokratie entgegenstehen.
„Mit der Macht der Ideologie in wörtlicher, schmerzhafter, körperlicher Weise in Berührung gekommen, hat Ines Geipel Worte für den einschlägigen Zusammenhang von Verdrängung und Gewalt gefunden, dem sie mit ganz eigenen Formen der Aufarbeitung begegnet“, lobt die Jury.
Förderpreis für „Memorial“
Auf Vorschlag Geipels zeichnete die Lessing-Akademie zudem drei junge russische Forscherinnen der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ mit einem Förderpreis aus. Sie forschen zur Geschichte der friedlichen Revolution 1989 in Russland.
Mitglieder der Jury:
- Franziska Augstein
- Alexandra Hupp
- Ulrike Sprenger
- Cord-Friedrich Berghahn
- Joachim Block
- Daniel Fulda
Die bisherigen Preisträger und Förderpreisträger:
- Karl Heinz Bohrer / Michael Maar (2000)
- Alexander Kluge / St. Petersburger Cello-Duo (2002)
- Elfriede Jelinek / Antonio Fian (2004)
- Moshe Zimmermann / Sayed Kashua (2006)
- Peter Sloterdijk / Dietmar Dath (2008)
- Kurt Flasch / Fiorella Retucci (2010)
- Claus Peymann / Nele Winkler (2012)
- Hans Ulrich Wehler / Albrecht von Lucke (2014)
- Dieter Wieland / Thies Marsen (2016)
- Elizabeth T. Spira / Stefanie Panzenböck (2018)