Kubels Warnung an die Welt
75 Jahre Kriegsende, Folge 4: „Aus sieben Gramm Fett lässt sich keine deutsche Demokratie aufbauen.“
Das Ende der traditionellen Strukturen des Landes Braunschweig bezeichnete der britische Group Captain Hicks in der Schlusssitzung des Braunschweigischen Landtags am 23. November 1946 als Beginn der wirklichen Demokratie. Der Braunschweigische Landtag hatte in den neun ordentlichen und vier außerordentlichen Sitzungen sowie zahlreichen Ausschussberatungen seiner neunmonatigen Existenz allerdings ein gewaltiges Pensum erledigt. Hauptthemen der Beratungen und der begleitenden Presseberichterstattung machten die Notsituation der Bevölkerung deutlich.
Vor 75 Jahren endeten der Zweite Weltkrieg und damit auch das faschistische Terrorregime der Nationalsozialisten. Die Alliierten hatten Deutschland befreit, in Braunschweig waren die Amerikaner bereits am 12. April 1945 einmarschiert. An dieses Ereignis erinnerte „Der Löwe – das Portal für das Braunschweigische“ ausführlich (www.der-loewe.info/12-april-1945-der-tag-der-befreiung). In dieser Serie „Braunschweigische Geschichte(n) Spezial: 75 Jahre Kriegsende“ geht es um die Zeit danach, um den demokratischen Neuanfang.
Warenhortung und Schwarzhandel
Der Braunschweigische Landtag beriet unter anderem über die katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung. In einem dramatischen Appell richtete Ministerpräsident Alfred Kubel damals die Warnung an die Welt, dass sich auf sieben Gramm Fett keine deutsche Demokratie aufbauen lasse. Weitere Themen waren die Warenhortung und der Schwarzhandel, die Wohnraumbeschaffung sowie die bessere Versorgung der Flüchtlinge, obwohl das nach Einschätzung des Landtags eigentlich die Kräfte des Landes überstieg.
50 Fabriken und Firmen mussten schließen
Erklären ließen sich manche Schwierigkeiten, da sich infolge des Zweiten Welt-kriegs die Wirtschaftsstruktur der Region Braunschweig grundlegend veränderte: Der Wirtschaftsraum Braunschweig war durch die Grenzlage von wichtigen Absatz- und Produktionsmärkten im Osten abgetrennt. Besonders betroffen waren die Industrien der Nahrungs- und Genussmittel, die Obst, Gemüse und Saatgut aus dem mitteldeutschen Raum bezogen und östlich der Elbe ihre Hauptabsatzgebiete gehabt hatten. Auch der Anlagenbau als Zulieferunternehmen für die Nahrungs- und Genussmittelindustrie erlebte enorme Einbußen.
Dies führte unter anderem zur Schließung von mehr als 50 Konservenfabriken und Zulieferfirmen und es fielen alle Arbeitsplätze weg. Hinzu kamen in den ersten Nachkriegsjahren die Zerstörungen der Industrieanlagen; so waren alleine in der Stadt Braunschweig 50 Prozent der Anlagen ganz oder stark zerstört. Trotz Rohstoff- und Kohlenmangels konnten viele Unternehmen dennoch sofort nach Kriegsende ihre Produktion zumindest eingeschränkt wieder aufnehmen.
Demontageliste der Alliierten
Unternehmen wie die Büssing N.A.G. Flugmotorenwerke GmbH in Querum, die Firma Karges-Hammer, die Luther-Werke und die Stahlwerke Braunschweig in Watenstedt-Salzgitter standen dagegen als ehemalige Rüstungsbetriebe auf der Demontageliste der Alliierten. Die Reichswerke AG in Watenstedt-Salzgitter stand an der Spitze der für die Demontagen freigegebenen „überzähligen Anlagen“ und zehn der zwölf Hochöfen sollten demontiert werden. Damit verbunden war ein starker Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Salzgittergebiet.
Als im Frühjahr 1950 die weitere Infrastruktur des Werks zerstört werden sollte, was die Möglichkeit eines Wiederaufbaus gänzlich unmöglich gemacht hätte, kam es zu Unruhen, Protesten und Massendemonstrationen in der Bevölkerung. Hatten viele Industriebetriebe in den Nachkriegsjahren noch unter Demontagen und Produktionsausfall zu leiden, konnte der zweite Großkonzern in der Region, das Volkswagenwerk in Wolfsburg, ohne Unterbrechung produzieren. Im Mai 1945 wurde die von den Nazis gegründete „Stadt des KDF-Wagens“ durch eine Stadtverordnetenversammlung der Alliierten in „Wolfsburg“ umbenannt.
Großraum Braunschweig wächst
Wesentlich für die besonderen Schwierigkeiten auch der wirtschaftlichen Entwicklungen in der Region Braunschweig wurde die Tatsache, dass im Großraum Braunschweig 1939 noch rund 690.000 Menschen lebten und diese Zahl 1946 aufgrund der Evakuierung und der Flüchtlings- und Vertriebenenströme auf etwa 990.000, anstieg, also um etwa 43 Prozent. Erst die Währungsreform vom 21. Juni 1948 machte grundsätzlich der Mangelwirtschaft und dem Warentausch ein Ende und allmählich normalisierten sich die Verhältnisse.
Doch das Problem der Preissteigerungen und die weiter wachsende Not insbesondere bei der Arbeiterschaft blieben längere Zeit ein Sorgenkind der Stadtverwaltung, aber auch der Landesregierung. Noch gab es zahlreiche Hungerdemonstrationen oder besser gesagt Proteste gegen die hohen Preise und weitere Preiserhöhungen bei anhaltendem Lohnstopp. Nur allmählich besserten sich die Verhältnisse. Braunschweig hatte bald wieder 205.000 Einwohner. Um dem immer noch steigenden Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten zu begegnen, hatte die Verwaltung schließlich ein Stadtflüchtlingsamt eingerichtet. Der Weg zum Strukturwandel und zum Wiederaufbau hatte mit aller Macht eingesetzt.
Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungsdirektor des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte und Geschichtsvermittlung an der TU Braunschweig.