Nackte Ringer lösen Kunstskandal aus
Braunschweigs skurrile Ecken und andere Merkwürdigkeiten, Folge 19: Was bedeuten die Buchstaben auf den Figuren des Ringerbrunnens?
Die meisten Passanten betrachten den Ringerbrunnen, ohne zu ahnen, dass er einst für einen handfesten Kunstskandal gesorgt hatte. Bildhauer Jürgen Weber (1928-2007) hatte die Kämpfer in seinem vorgelegten Entwurf zunächst unbekleidet dargestellt. Das gefiel vielen nicht, so dass der Künstler sein Werk überarbeiten musste. Bei der Enthüllung hatte er schließlich eine große „Eulenspiegelei“ parat. Diese Geschichte ist wahrhaftig skurril und muss erzählt werden.
Am Anfang stand die Umwandlung der Innenstadt in eine. Wo in der Nachkriegszeit der Verkehr rollte, entstand die Flaniermeile, die sich vom Bohlweg bis zum Altstadtmarkt, vom Alten Bahnhof bis zum Kohlmarkt erstreckt. Unsere Stadt, die einst aus fünf deutlich erkennbaren Weichbilden bestand, lässt sich dadurch von allen Seiten durchlaufen.
Diese Weichbilde entstanden im Laufe der Jahrhunderte und wurden Altstadt, Neustadt, Hagen, Altewiek und Sack genannt. Sie alle kennzeichnete einst auch ein Marktplatz. Bei der Neugestaltung der Fußgängerzone sollte auch der längst verschwundene ehemalige Marktplatz des Sackes wieder erkennbar werden und einen Brunnen erhalten. Für die künstlerische Ausführung wurde Professor Jürgen Weber beauftragt.
Sein Entwurf griff ein antikes Thema auf. Er zeigte zwei Ringer so, wie man sich die klassischen, griechischen Ringer vorstellt: unbekleidet und gut eingeölt. Weber hatte auf eine alte Sage zurückgegriffen, in der Herkules gegen den Riesen Antäus kämpft. Der Kampf selbst war sehr ungleich, denn der Riese Antäus bezog immer neue Kraft, wenn er mit den Füßen wieder die Erde berührte. Als Herkules das schließlich mitbekam, stemmte er den Riesen in die Höhe und erwürgte ihn in der Luft. Genau das zeigt das Motiv des Ringerbrunnens.
Das vorgestellte Modell des Brunnens löste jedoch in der Braunschweiger Öffentlichkeit große Empörung aus. Das Argument gegen die geplante Figurengruppe lautete, dass man doch im öffentlichen Raum kein Denkmal aufstellen könne, bei dem zwei nackte Männer auf solche Art und Weise ihre Geschlechtsteile dem Betrachter präsentierten. Die Wogen schlugen hoch. Ein wahrer Kunstskandal! Professor Jürgen Weber musste seinen Entwurf überarbeiten.
Zwischen 1972 und 1973 fertigte er die bronzene Figurengruppe an. 1975 wurde sie mit einem Brunnenbecken am Sack aufgestellt und am 15. August 1975 (Quelle: Braunschweiger Stadtlexikon, 1992.) enthüllt. Gespannt drängte sich die Prominenz, darunter natürlich auch zahlreiche der Kritiker, nun um das neue Denkmal. Als das Tuch fiel, sahen sie auf den ersten Blick zwei züchtig bekleidete Ringer. Herkules trug einen Ringeranzug, der Riese eine knappe Hose.
Erst auf den zweiten Blick waren auf dem hochgereckten Hinterteil des ausgestemmten Antäus die Besonderheiten zu erkennen: Auf den Beinen des Riesen standen die Worte „Kunst“ und „Kritiker“. Direkt in der Mitte waren auf alle Zeiten die Namen der lautesten Kritiker des Nackt-Entwurfs eingraviert. Erst lachte ein Anwesender, letztlich alle – ein echter Eulenspiegelstreich, der aber noch vielschichtiger ist, als auf den ersten oder zweiten Blick erkennbar.
Denn Herkules trägt die Initialen „J.W.“, ist also mit dem Künstler identisch. Der ausgestemmte Gegner symbolisiert dabei die Kritik, der der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und noch mehr Hintergründiges lässt sich entdecken: Geht der Betrachter um die Figurengruppe herum, bemerkt er, dass Jürgen Weber alias Herkules auf einer unebenen Scheibe steht, die einen Löwenkopf darstellt. Und seine angehobenen Füße können aus dieser Sichtweise auch so interpretiert werden, dass sich der Künstler auf dem Löwenkopf die Füße abtritt. Es fehlt nur noch die Bemerkung: „Danke, Löwenstadt, für die Kritik!“
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