Nazischlächter tarnte sich als Volksschullehrer
Autor Jürgen Gückel liest im Rahmen der Ausstellung „Das Braunschweigische Land im Nationalsozialismus“ in Lehre aus seinem dokumentarischen Buch „Klassenfoto mit Massenmörder –Das Doppelleben des Artur Wilke“.
Die Geschichte, aus der Journalist und Autor Jürgen Gückel am 20. Januar um 18 Uhr im Rathaus Lehre lesen wird, klingt so unglaublich, dass mancher Zuhörer versucht sein wird, an einen Roman zu glauben. Das kann doch nicht wahr sein, was da zu hören ist! Aber doch, es stimmt. Gückels Buch „Klassenfoto mit Massenmörder – Das Doppelleben des Artur Wilke“ ist eine Dokumentation über einen Verblendeten des Nationalsozialismus. Und nicht nur das, denn Gückel beschreibt auch das Schweigen und Nichtwissenwollen eines ganzen Dorfes in der Zeit nach dem Nationalsozialismus, den zwiespältigen Umgang von Kirche und Politik mit verurteilten NS-Kriegsverbrechern sowie die Zweifelhaftigkeit eigener und fremder Erinnerungen.
Gückel stellt sein Buch im Rahmen der Ausstellung „Das Braunschweigische Land im Nationalsozialismus“ vor. Die Präsentation der Arbeitsgruppe Heimatpfleger der Braunschweigischen Landschaft setzt sich darin kritisch mit den lokal- und regionalgeschichtlichen Geschehnissen dieser Zeit auseinander. Gückels Dokumentation mit dem Schauplatz Stederdorf passt dazu in besonderer Weise. Der Eintritt zu Ausstellung mit ihren 32 Informationstafeln (noch bis zum 4 Februar) und Lesung ist frei.
Seit seiner Schulzeit hat Gückel der Verbleib des Lehrers Wilke interessiert. Länger als drei Jahre recherchierte er in Archiven, Prozess- und Personalakten, führte er Gespräche mit Mitschülern, Zeitzeugen und Historikern und studierte ungezählte Schriften über die Zeit des Nationalsozialismus, ehe er ein umfassendes Bild des unglaublichen Lebens jenes Mannes am Rande seines Einschulungsfotos dokumentieren konnte, das in seinem Dorf bis dahin ungekannt war. „Er war kein Lehrer, er war ein Massenmörder, ein Agent, Betrüger und Bigamist. Und man hat ihn fast eine ganze Generation Schüler unterrichten lassen, obwohl nicht wenige wussten oder ahnten, dass er nicht der war, für den er sich ausgab“, schreibt Gückel.
Gückel förderte die verwirrende Familiengeschichte eines fanatischen Nationalsozialisten und SS-Führers, dessen erste Ehe von Heinrich Himmler persönlich genehmigt wurde, zutage. Der Lehrer Walter Wilke, der in Wahrheit Artur hieß und ein studierter Theologe und Massenmörder war, zeugte binnen weniger Kriegsjahre vier Kinder. 1945 schlüpfte er in die Rolle seines gefallenen Bruders. Zur Tarnung seiner wahren Identität heiratete er erneut, um schließlich als vermeintlicher Onkel Vormund seiner eigenen Kinder werden zu können. Mit den Lehrerabschlüssen seines Bruders unterrichtete er 13 Jahre lang an der Volksschule Stederdorf unterrichtete.
Gückel fragte sich, warum sein erster Lehrer an der Volksschule Stederdorf so plötzlich weg war – aus dem Unterricht abgeholt, offenbar von der Polizei, für ein Jahrzehnt verschwunden und vom ganzen Dorf verschwiegen. Der Verbleib war kein Thema. Wer der falsche Lehrer Wilke in Wirklichkeit war, zeigte einer der spektakulärsten NS-Prozesse 1962 in Koblenz: Als Hauptsturmführer und Mitglied der SS-Einsatzgruppen hat Artur Wilke im Tötungslager Malyj Trostenez bei Minsk mindestens 6600 Menschen eigenhändig ermordet beziehungsweise ihre Erschießung oder Tötung in einem Gaswagen angeordnet. Er wurde unter anderem beschuldigt, eine Kirche mit 257 Frauen, Männern und Kindern darin in Brand gesetzt zu haben. Aber auch Informationen über den Prozess drangen nicht bis nach Stederdorf vor.
Zu zehn Jahren Zuchthaus wurde der Massenmörder verurteilt. In seiner Zelle wurde er zu einem der wichtigsten Zeugen für das Wirken der evangelischen Gefängnisseelsorge an den NS-Tätern. „War schon sein Strafprozess zu einem Lehrbeispiel für die kollektive Verdrängung deutscher Schuld am Grauen der Hitler-Zeit geworden, so entwickelte sich Artur Wilkes Schriftverkehr mit Seelsorgern wie Professor Hermann Schlingensiepen und Kirchenpräsident Hans Stempel zu einem für die theologische Wissenschaft fruchtbaren Beispiel der christlichen Schuldvergebung ohne Anerkennung eigenen Versagens durch die Täter“, so Gückel.
Sein Fazit: Zu einem Eingeständnis eigener Schuld konnte sich der tausendfache Mörder Artur Wilke nie durchringen. An keiner Stelle hat er je Mitleid geäußert mit den Kindern, Greisen, Frauen und Männern, die er tötete oder töten ließ. Er sah sich vielmehr bis zum Lebensende als verführtes, aber eidestreues Werkzeug jener NS-Ideologie, die ihn zu seinen Taten befohlen hatte. Am Ende fühlte er sich als einer, der stellvertretend für die Schuld eines ganzen Volkes im Gefängnis leiden musste, als eine Art Märtyrer.
Fakten:
„Klassenfoto mit Massenmörder“
295 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-525-31114-1
Vandenhoeck & Ruprecht
25 Euro
Fotos