Szenemagazin LIVING in den Brunsvicensien
Als Dokumente der jüngeren Zeitgeschichte der Region sind alle Ausgaben digital über die Universitätsbibliothek der TU zugänglich.
Achtung Zeitfresser! Wer sich darauf einlässt, in den jetzt digital einzusehenden Ausgaben des Szenemagazins Living aus den Jahren von 1988 bis 1994 zu stöbern, läuft Gefahr, sich darin hoffnungslos zu verlieren und die Zeit zu vergessen, weil das Design so außergewöhnlich ist, so viel Interessantes entdeckt werden kann und für Ältere so viele Erinnerungen ermöglicht werden. Das seinerzeit von Andreas Grosz gegründete avantgardistische Magazin war als Imagetransporteur für das Braunschweigische gedacht, sollte die steigende Attraktivität Braunschweigs hinsichtlich Kultur, Freizeit, Konsum und Architektur in der Verbindung mit Tradition herausstreichen. Als Dokumente der jüngeren Zeitgeschichte der Region Braunschweig sind alle fast 40 Ausgaben über die Universitätsbibliothek der TU jetzt digital abrufbar: https://leopard.tu-braunschweig.de/content/collections/brunsvicensien/borek.xml
Unter Wert geschlagen
Initiator und Herausgeber Andreas Grosz, der als Student nach Braunschweig gekommen war, erinnert sich in einem von Michael Heinze, damals Mitglied des Redaktionsteams, geführten Interview an die Anfänge: „Wir fanden, dass sich Braunschweig vom Image her unter Wert schlug. Dass es hier viel mehr zu entdecken und zu erzählen gab. Zudem sollten ja Beiträge aus anderen Städten und Ländern das Spektrum und die Perspektive des Magazins weiten. Zu den Pionieren des Magazins gehörten Peter Lorenschat vom Wohnstudio Extra und Wolfgang Rühle, der in Braunschweig ein Designbüro betrieb. Mit ihm und Studenteninnen und Studenten der HBK Braunschweig haben wir in vielen Nachtschichten das Layout-Konzept und die ersten Ausgaben von LIVING erarbeitet. Das war damals noch reine Handarbeit, bei der die späteren Druckvorlagen händisch geklebt und bearbeitet wurden. Erst später, Ende der 1980er wurde LIVING Stück für Stück am Apple-Rechner entwickelt und in stundenlangen Übertragungszeiten per Modem an die Litho-Anstalten und später an die Druckerei versandt.“ Nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sei das kulturelle und kreative Potential gewesen. LIVING hat es auf dem erstaunlichen Format von 370 x 270 Millimeter sichtbar gemacht.
Pariser Magazin als Vorbild
Vorbild für das Braunschweiger Magazin sei L’IMAGE aus Paris gewesen. Mit den Machern des großformatigen und schwarz-weiß gehaltenen Magazins habe er bereits länger in Kontakt gestanden, erzählt Grosz. Gleichwertig zum Text sei von Anbeginn die Fotografie wichtig für Living gewesen. „Unsere Fokussierung auf Schwarz-Weiß wirkte auf viele Fotografen wie ein Magnet“, nennt Grosz einen Markenkern der LIVING. Nach den ersten drei Ausgaben, denen man das Selbermachen noch gut angesehen habe, habe die Richard Borek Stiftung Hilfe angeboten, um das Heft professioneller herstellen und vertreiben zu können. Von Braunschweig aus habe sich LIVING als Kulturmagazin mit bundesdeutschem Fokus entwickelt. Dass LIVING jetzt auch dank der Unterstützung der Richard Borek Stiftung digital im Archiv der Technischen Universität zu finden und zu lesen sei, finde er großartig. Dort ist auch das gesamte Interview mit Andreas Grosz zu finden. Die Geschichte der LIVING endete 1994, weil Grosz zum Gründungsgeschäftsführer der Weltausstellungsgesellschaft EXPO 2000 Hannover GmbH berufen wurde.
Zukunftsthemen im Fokus
Bis dahin wurden Umwälzungs- und Erneuerungsprozesse in der regionalen Kulturszene in experimenteller Weise aufgegriffen. Später erschien es auch eine Niedersachsen-Ausgabe. Schwerpunktausgaben zu Themen wie „Die Zukunft der Arbeit”, „Ökologie und Ökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts“, „Quo Vadis Design”, „Architektur heute: Hauptstadt Berlin”, „Neue Medien – Neues Denken?”, „Kunst am Ende?” oder „Ideen für Europa” zeigen, wie früh sich das Magazin mit Zukunftsthemen auseinandersetzte und faktenreiche Inhalte und Diskussionsbeiträge in künstlerischer Gestaltung lieferte.
Tenzer und die Eintracht
In den LIVING-Ausgaben findet sich auch aus heutiger Sicht noch viel Interessantes, das seine Relevanz nicht verlor. Etwa in Ausgabe Nr. 2 aus dem Jahr 1988 unter dem Titel „Ein Mann für alle Fälle“. Es geht um Harald Tenzer, der gerade 80 Jahre alt wurde. „Tenzer sucht und braucht die Herausforderung, neue Ziele und Aufgaben, an denen er sich ausprobieren und entwickeln kann. Ein geregelter 8-Stunden-Tag ist nichts für ihn. Wer ihn so kennt oder kennenlernt, den verwundert es nicht, dass Harald Tenzer in einer der schwierigsten Phasen der Vereinsgeschichte die Präsidentschaft von Eintracht Braunschweig übernehmen konnte“, heißt es da. Tenzer war erfolgreicher Unternehmer, Ratsherr, Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer und Erfinder des (Sponsoren-) „Pools 100“, der Eintracht seinerzeit vor der Insolvenz rettete und bis heute hilft, Profifußball in Braunschweig zu ermöglichen.
Nachtleben an der Oker
Spannend zu lesen ist der Szene-Test über das „Nachtleben an der Oker“ in Nr. 2 aus 1990, in dem Discotheken, heute würde man sagen Clubs, beurteilt wurden. Dem „Jolly Joker“ wurde „Jugendzentrum-Ambiente“ attestiert, dem „Kiwi“ wurde als „Leukoplast“-Nachfolger die „echte Braunschweiger Avantgarde“ abgesprochen und als Etablissement für 16-jährige Postpopper und Konsum-Kids bezeichnet. Als „konsequente Alternative für die Punks und Schwarzmänner“, wurde das Zorn im Saal (Bruchtorwall). „Diese Art von Andersartigkeit ist für einen normal empfindenden Bürger nicht zu ertragen. Laute Chaos-Musik und wild gebürstete Menschen arrangieren Subkultur“, steht geschrieben. Und das „Panoptikum“ (Gieseler) sei für Harley-Fahrer, Späthippies und Amüsierwillige, die keinen anderen Laden gefunden hätten, das Richtige. Heute sind das alles ehemalige Kultlokale, an die sich sehr viele gerne erinnern.
China und die Autos
In Ausgabe Nr. 4 des Jahres 1992 findet sich ein Interview mit Daniel Goeudevert, der von 1991 bis 1993 das für den Einkauf zuständige Vorstandsmitglied der Volkswagen AG war. Thema war die vorausgegangene China-Reise Goeudeverts und Grenzen des Wachstums. Er wurde gefragt, ob er sich vorstellen könne, dass in absehbarer Zeit jeder zweite Chinese ein Auto fahre. Seine Antwort: „Daniel Goeudevert: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Das würde 600 Millionen Autos bedeuten und ist nicht zu verkraften, weder von der Infrastruktur noch der Umwelt. Wir haben die Tendenz in der westlichen Welt, das Thema Wachstum auf uns bezogen zu betrachten: Mit der Erfahrung eines ausgezehrten Wachstums, wo Ökonomie und Ökologie nicht mehr kompatibel sind. Aber wenn man in China ist, versteht man, wie relativ das Thema ‚Grenzen des Wachstums‘“ ist und wie nötig hier Wachstum ist Die Chinesen sind da sehr vernünftig. Der zuständige Minister hat mir gesagt, wenn wir die 50.000 Bezirke nehmen und jeder Bezirk 100 Autos bestellt, wären das schon fünf Millionen Autos. Die Infrastruktur wird nicht so schnell wachsen können. Die Verkehrsstruktur der historisch gewachsenen Innenstädte ist absolut nicht geeignet für eine Automobilgesellschaft.“ Im Jahr 2022 waren übrigens 277 Millionen Autos in China zugelassen.
Die Bedeutung von Kultur
Früh bemerkte die LIVING, dass sogenannte weiche Standortfaktoren bedeutsam sind für die Gewinnung von Fach- und Führungskräften. Längst vorbei seien die Zeiten, als der Zugang zur Kultur, den sogenannten Schöngeistigen und einer kleinen Bildungsminderheit vorbehalten bliebe, schrieb die LIVING in Ausgabe 6 aus dem Jahr 1989: „Der Deutsche Städtetag meldet soeben für 1987 (die Zahlen reichen nicht weiter) allein für die deutschen Museen über 52 Millionen registrierte Besucher. Das sind fast zehnmal mehr Interessenten als Zuschauer der 1. Fußball-Bundesliga in der vergangenen Spielzeit. Und: Für die Jahrtausendwende wird den Museen und Kunsthallen eine Verdoppelung der Besucherzahlen prognostiziert. Kein Wunder, wenn immer mehr Unternehmer und Arbeitnehmer sich bei der Wahl ihres zukünftigen Standortes unter anderem vom Freizeit- und Kulturangebot leiten lassen. Nicht zuletzt deswegen gibt es seit 2013 die Allianz für die Region. Ein weiterer Beleg dafür, dass die LIVING durchaus visionär war…
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