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Todesursache ungeklärt: Wie kam Harfen-Agnes in der Anstalt um?

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Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass das Braunschweiger Original in Königslutter Opfer vorauseilenden Gehorsams zu Hitlers Euthanasieerlass wurde.

Agnes Adolphine Agathe Schosnoski (1866-1939) ist in Braunschweig unter ihrem Spitznamen „Harfen-Agnes“ viel besser bekannt. Sie zählt gemeinsam mit dem Rechen-August, dem Tee-Onkel und dem Deutschen Herrmann zu den bedeutenden Braunschweiger Originalen. Nach unserer Berichterstattung über die Ausstellung „Königslutter und der Krankenmord – die Landes-Heil- und Pflegeanstalt im Nationalsozialismus“, die noch bis zum 6. Oktober in der Gedenkstätte Schillstraße in Braunschweig zu sehen ist, erreichten die „Löwe“-Redaktion Anfragen zum Tod von Agnes Schosnoski, die eben in der in der Königslutteraner Anstalt am 2. September 1939, einen Tag nach Ausbruch des verhängnisvollen Zweiten Weltkriegs starb. Wir haben uns auf Spurensuche begeben, um aufklären zu können.

Unehelich und intellektuell minderbemittelt

Über Harfen-Agnes gibt es eine ganze Reihe von Aufsätzen, die ihr beschwerliches Leben als uneheliches Kind und als intellektuell minderbemittelte Frau am Rande der Gesellschaft schildern. So beschäftigten sich der ehemalige Lokalredakteur der Braunschweiger Zeitung, Günther K.P. Starke in seinem Buch „Mensch, sei helle: Braunschweiger Originale, wie sie lebten und wer sie waren“ ‎ (Joh. Heinr. Meyer Verlag, 1987, ISBN: 9783926701008, 15,99 Euro), Gerd Biegel im Spezial „Die 100 größten Braunschweiger“ (2005) der Braunschweiger Zeitung oder Regina Blume in dem von der Arbeitskreis Andere Geschichte vorgelegten Buch „Braunschweiger Frauen in ihrer Zeit“ (döringDRUCK, 2018, ISBN-13: 978-3-925268-60-1, 15,95 Euro) mit der letzten Bänkelsängerin der Stadt. Unklar bleibt jedoch, wie sie umkam, woran sie starb und ob sie letztlich ein Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms wurde.

Der Ärztliche Direktor des heutigen AWO-Therapiezentrums in Königslutter, Dr. Mohammad-Zoalfikar Hasan, vermutet, dass „Harfen-Agnes“ Opfer der Euthanasie der Nationalsozialisten war. Es gebe jedoch keine Belege, indes liege die Vermutung nah, da sie Epileptikerin war, sagte er im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung zu den Braunschweiger Originalen in den Räumen der Braunschweiger Zeitung im Jahr 2017.

Keine Obduktion vorgenommen

Autorin Regina Blume recherchierte für ihren Beitrag in „Braunschweiger Frauen in ihrer Zeit“ intensiv zum Ableben der Harfen-Agnes. „Mit Sicherheit kann niemand beweisen, ob Agnes Schosnoski in Vorgriff auf Hitlers Euthanasieerlass starb. Alierdings gibt es eine Reihe von lndizien, die sich aus der damals allgemein geltenden Beurteilung und dem Studium ihrer Krankenakte ergeben: ihre uneheliche Geburt, ihre Krankheitssymptome, ihre lange Verweildauer in der Anstalt, ihre belasteten Familienangehörigen, ihre Nichtverwendbarkeit zur Arbeit, die Besonderheit ihres Sterbedatums, die Tatsache, dass keine Todesursache ersichtlich ist und die Anordnung, keine Obduktion vorzunehmen“, schrieb sie in dem Aufsatz.

Bereits fünfeinhalb Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war am 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beschlossen worden. Es eröffnete den Nazis die pseudorechtliche Grundlage zu unethischen Menschenversuchen und zur bald beginnenden Euthanasie. Im Oktober 1939 verschärfte Hitler mit dem „Euthanasieerlass“ die sogenannte Rassenhygiene des verbrecherischen NS-Regimes. Zwar widerrief Hitler im August 1941 nach massiven Protesten seinen Befehl, doch der systematische Krankenmord ging dezentral unvermindert weiter. Bis Kriegsende wurden rund 200.000 psychisch kranke und behinderte Menschen ermordet. Über Heimbewohner, die seit mehr als fünf Jahren in einer Einrichtung lebten, mussten Meldebögen ausgefüllt werden, die Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie oder auch senilen Erkrankungen erfassten.

Agnes Adolphine Agathe Schosnoski (1866-1939). Foto: döringDRUCK

Strohhut, langer Mantel, rosa Socken

Allein das Äußere machte Harfen-Agnes zu einer Berühmtheit auf Braunschweigs Straßen. Ein künstlerisches Denkmal setzten ihr Christian Eitner und Peter Schanz mit dem im Staatstheater aufgeführten Stück „Mensch Agnes! – eine Moritat“. Zu Lebzeiten war ihr eine derart wohlwollende Popularität nicht vergönnt gewesen. Ihre Zeitgenossen gingen nicht gerade nett mit ihr um, sondern machten sich über sie lustig. Ihre epileptischen Anfälle wurde fälschlicherweise für Trunkenheit gehalten. Einmal sollen Jugendliche ihr sogar Pferdeäpfel in den Mund gesteckt haben.

Strohhut, langer Mantel und rosa Socken trugen sicher ebenso dazu bei wie ihre teils selbstgedichteten und auf einer Gitarrenharfe selbst begleiteten Lieder wie „Mensch saa helle, un wenn’s auch duster is“. Sie sang auf Volksfesten, in Gaststätten und auch schon mal auf privaten Feiern, um sich ein wenig Geld zu verdienen, das sie für ihr sehr einfaches Leben brauchte.

Zuletzt wohnte Agnes Schosnoski in einem Zimmer in der Weberstraße 47 und wurde von einer Nachbarin betreut. Als sich Harfen-Agnes schließlich nicht mehr um sich selbst kümmern konnte, wurde sie erst in einem Pflegehaus der Stadt untergebracht, bevor sie verhängnisvoll in die Heil- und Pflegeanstalt Königslutter zwangseingewiesen wurde und dort umkam.

Umweg zur „Tötungsanstalt“

Susanne Weihmann hat die Abläufe in der Anstalt in ihrem Braunschweigischen Geschichtsverein herausgegeben Buch „Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Königslutter und der Krankenmord“ (Appelhans Verlag, 2020, ISBN-13: 9783944939858, 18 Euro) aufgearbeitet. „In die Euthanasiemaßnahmen des Dritten Reiches war die Heil- und Pflegeanstalt Königslutter (LHP) als einzige staatliche Anstalt des Landes Braunschweig mit einbezogen. Sie übernahm die Aufgabe einer Zwischen- oder Durchgangsanstalt, um die zu Ermordenden aus Tarnungsgründen über einen Umweg in die ‚zuständige‘ Tötungsanstalt zu transportieren. Der Direktor der LHP, Ernst Meumann, hatte an zwei die Euthanasiemaßnahmen vorbereitenden Tagungen in Berlin teilgenommen und war über das Mordprogramm informiert“, schrieb sie. Susanne Weihmanns Buch ist Basis für die aktuelle Ausstellung in der Gedenkstätte Schillstraße.

Mehr unter:

https://www.der-loewe.info/hans-tepelmann-opfer-der-euthanasie

www.der-loewe.info/braunschweigs-starke-frauen

www.der-loewe.info/tragische-figuren-wurden-zu-originalen

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