Wehrhaft, trutzig und stark
Braunschweigs skurile Ecken und andere Merkwürdigkeiten: der Wehrgang im Viertel der ‚Unehrlichen‘.
Es ist wirklich fast eine Zeitreise, wenn wir den Verkehrstrubel der Güldenstraße hinter uns lassen und in den Prinzenweg abbiegen. Überhaupt schon der Straßenname! Nein, Prinzen dürften sich hierher wohl kaum verirrt haben, denn auf dieser Seite der 1297 so bezeichneten aurea platea, der „Goldenen Straße“, der Fernhandelsstraße zwischen Lüneburg und Frankfurt („Salz gleich Goldwert“) lebten die Ärmsten der Armen unserer Stadt hinter der Stadtmauer.
Gleich auf der linken Seite erblicken wir den Teil der Stadtmauer, der am besten erhalten ist und auch noch beeindruckender als das verbliebene Stück auf dem Schulhof der Realschule John F. Kennedy-Platz. Diese Überbleibsel der Weichbildmauern („Weichbild“ = Stadtteile Hagen, Neustadt, Altstadt, Altewiek, Sack) stammen aus dem 13. Jahrhundert und gehören zu den ältesten Befestigungen unserer Stadt. 1960 hat man das Stück am Prinzenweg restauriert und eine Inschrifttafel angebracht, mit der an den letzten Ausbau von 1582 erinnert wird. Dieses Stadtmauerstück steht am „Beginekenworth“. Bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg stand dort das „Döring’sche Beginenhaus“. In solchen Häusern kümmerten sich fromme, nicht durch Gelübde gebundene Frauen um arme und kranke Menschen. Ein Straßenschild mit dem seltsamen Namen erinnert heute an deren Schaffen.
Dann geht es rechts in die Echternstraße, eine Bezeichnung, die vom Wort „Achtern“ herleitet und in diesem Falle die Gegend hinter der Stadtmauer meint. 1304 finden wir diese Straße als platea finalis verzeichnet, also als letzte Straße vor der Stadtmauer, dann ab 1310 echterenstrate. Es handelte sich früher bei dieser Straße um das Viertel der „unehrlichen Berufe“, mit denen niemand gern in Berührung kam. Zu den „Unehrlichen“ gehörte der Bader mit seinen Schröpfköpfen und dem Zahnbrechen, der Totengräber der Altstadt, Abdecker, Kesselflicker, ja selbst der Türmer und der Büttel und selbst die Müller. Ganz besonders natürlich die Prostituierten, die in dieser Straße in drei Häusern untergebracht wurden. Eines davon, das „Rote Kloster“ genannt am Südende der Straße gelegen, war berühmt-berüchtigt. Allerdings gab es auch jemanden, der die Aufsicht über die zahlreichen „Unehrlichen“ hatte – das war der Henker der Altstadt, der auch in dieser Straße wohnte.
Trotzdem gab es auch durchaus ehrbare Anwohner, so schräg gegenüber der St. Michaelis-Kirche, hinter dem Prediger-Witwenhaus, die Stobwasser-Fabrik, in der der Fabrikant ab 1771 die herrlich bemalten Schachteln, Tabatieren, Tabletts usw. herstellen ließ. Dort arbeiteten aufgrund der starken Nachfrage bis zu 100 Menschen. Das Haus hat den Krieg unbeschadet überstanden, zugleich bildet es heute den Abschluss der historischen Bebauung. Wir gehen auf den Hof des Hauses ein paar Meter und stehen vor einem seltsamen, niedrigen Gebäude – dem Rest eines mittelalterlichen Stadtturmes. Zwar wurde hier ein Gittertor angebracht, aber es steht für Besucher offen. Beim Verkauf der benachbarten Grundstücke wurde dieser gedeckte Wehrgang mit verkauft. Wenn wir ihn betreten, kommen wir direkt hinunter zum alten Neustadtmühlengraben, dem ersten Stadtmauergraben.
Die Stadt Braunschweig wurde bereits im 12. Jahrhundert mit einer Stadtmauer versehen. Das heißt, die Weichbilde wurden nach und nach mit dieser Mauer umgeben, auf Veranlassung Heinrich des Löwen zunächst der „Hagen“ (= umhegter Bezirk), später, unter seinem Sohn, dem Welfenkaiser Otto IV., auch die anderen Weichbilde. Dabei handelte es sich um eine Buntsandsteinmauer, vor der ein ziemlich schmaler Graben verlief – den man teilweise noch vom Gieselerwall bis zum Gaußberg entdecken kann. Ab dem 18. Jahrhundert begann man damit, den östlichen, inneren Umflutgraben weitgehend zuzuschütten.
Seit dem 14. Jahrhundert begann man, einen 6 Meter hohen Erdwall aufzuwerfen und davor einen 1450 fertiggestellten Umflutgraben anzulegen. Auf diesem mit dem Wasser der Oker gefüllten Graben lassen sich heute noch wunderbare Bootsfahrten unternehmen, wenn es auch durch die Wehre nicht möglich ist, einmal um die gesamte Innenstadt zu fahren.
Neun Stadttore und drei Ein- bzw. Austrittstellen der Oker unterbrachen diese Befestigung, die zum Ende des 18. Jahrhunderts auf Anweisung Herzog Carl Wilhelm Ferdinands geschleift wurde. Peter Josef Krahe bekam 1802 den Auftrag, Parkanlagen und Promenaden zu schaffen.
König Philipp von Schwaben belagerte im Jahre 1200 die Stadt. Damals erschien der Schutzheilige St. Auctor und rettete die Stadt. 1492/93 wurde Braunschweig durch Herzog Heinrich d. Ä. belagert und damit eine Reihe von Eroberungsversuchen der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel eingeleitet, die ihre Residenz im 13. Jahrhundert nach Wolfenbüttel verlegt hatten. Die Befestigungsanlage der Stadt war jedoch zu stark für die Angreifer. An mehreren, sternförmig angelegten Bastionen standen später Kanonen. Erst 1671 gelang es drei welfischen Fürsten die aufsässige Stadt einzunehmen und damit das Ende ihrer Unabhängigkeit zu erreichen.
Jahrhundertelange Auseinandersetzungen zwischen den Herzögen und den reichen Patriziern fanden dadurch ihr Ende. Die Echternstraße jedoch, jenes „Viertel der Unehrlichen“, ist heute ein städtisches Kleinod. Die Traditionsinsel um die 1157 geweihte Kirche St. Michaelis wurde in den 1990er Jahren saniert, 2002/03 brachten archäologische Grabungen interessante Funde ans Tageslicht, die teilweise aus dem 13. Jahrhundert stammen.