Startseite Gesellschaft & Lebensstil Windeln wie im wahren Leben

Windeln wie im wahren Leben

Windeln wechseln, gehört natürlich zum Elternpraktikum. Foto: Susanne Jasper
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Sozialdienst katholischer Frauen Braunschweig e.V. bietet seit 2005 Elternpraktika mit Babysimulatoren an.

Auf die Frage, wie denn die erste Nacht mit dem Baby gewesen sei, schlägt Jana die Hände vors Gesicht: „Mir ging es eh nicht so gut. Und als das Baby dann auch noch angefangen hat zu schreien, war ich schon genervt.“ Angelique ging es auch nicht besser: „Um 1.35 Uhr ist das Baby wach geworden.“ Danach war es dann vorbei mit der ungestörten Nachtruhe. Und Angelique würde sich wahrscheinlich am liebsten neben ihr Baby legen, das nun so friedlich schlummert.

Wir sind zu Besuch in der Schwangeren- und Familienberatungsstelle des Sozialdienstes katholischer Frauen Braunschweig e.V. Die Babys schauen fast aus wie echte Säuglinge, sind aber Puppen. Und Jana und Angelique sind keine sehr jungen Mütter, sondern Teilnehmerinnen eines Projekts mit Babysimulatoren, das der Sozialdienst mittlerweile seit 2005 anbietet. Im wahren Leben besuchen die beiden jungen Mädchen die Astrid-Lindgren-Förderschule.

Sechs Schülerinnen nehmen an dem Elternpraktikum teilt, das sich über eine Woche erstreckt. Sie haben sich freiwillig gemeldet. Nun sitzen sie nach ihrer ersten Nacht mit den Babys in trauter Runde beisammen, ein Säugling knörrt täuschend echt, ein anderer Babysimulator ist deutlich unruhiger. Wahrscheinlich ist die Windel voll. Für jedes Bedürfnis gibt es unterschiedliche Schrei- und Quengelfrequenzen, in die sich die Mädchen einfühlen müssen. Wie im wahren Leben. Schulsozialarbeiterin Ute Grabs, die ihre Schülerinnen während des Projekts begleitet, sagt: „Dieses Praktikum soll die Mädchen nicht abschrecken, sondern ein realistisches Bild von Mutterschaft vermitteln.“ Oftmals seien die Mädchen und auch die paar wenigen Jungen, die teilnehmen, recht naiv, was Elternschaft und die Verantwortung konkret bedeuten.

Schon nach drei Nächten mit dem Babysimulator seien viele heilfroh, dass sie wieder durchschlafen und  in Ruhe duschen können. „Es gibt ja nach wie vor viele sehr junge  Frauen, die ohne Schulabschluss und Berufsausbildung schwanger werden“, ergänzt Andrea Nimmerrichter-Morscheck. Die Diplompsychologin bietet das Praktikum gemeinsam mit der Diplom-Sozialwissenschaftlerin Astrid Schrader an. „Durch ein eigenes Kind erhoffen sich Jugendliche oft, der mit fehlendem oder niedrigem Schulabschluss einhergehenden Perspektivlosigkeit zu entfliehen“, so Nimmerrichter-Morscheck über vage Hoffnungen, die manchmal an einen Kinderwunsch geknüpft sind. Dass dies eine blauäugige Lebensplanung ist, das ein Kind nicht automatisch heile Welt bedeutet, lernen die jungen Mädchen in diesem Projekt.

Der Umgang mit dem Baby, das liebevolle Schuckeln und Trösten und Windeln, die Fürsorge rund um die Uhr, ist ein Aspekt während der Woche beim Sozialdienst in der Bernerstraße in Braunschweig. Es wird aber auch darüber gesprochen, welche Konsequenzen Elternschaft hat. „Wir hatten mal ein Mädchen, das die Kosten für das Kind mit ihrem Konfirmationsgeld bezahlen wollte.“ Dass man damit nicht allzu weit kommt, begriff sie unter anderem während dieses Praktikums. Und dass man ein Baby nicht wie eine Puppe in die Ecke legen kann, wenn man genug von dem Quälgeist hat, lernt man am besten im Selbsttest: Ein Mädchen, das ihr Baby mit zum Cheerleadertraining genommen hatte, musste just in dem Moment, als sie oben auf der Pyramide stand, zum schreienden Baby.

„Innerhalb von zwei Minuten müssen die Mädchen mit ihrem Armband Kontakt zum Chip des Babysimulators haben“, erklärt Nimmerrichter-Morscheck. Das stresst natürlich. Im wahren Leben könnte man vielleicht auch den Trainer oder die Oma um Hilfe bitten, aber bei diesem Projekt soll ja gerade gelernt werden, sich zu kümmern, sich zu organisieren, immer alles für ein Baby dabei zu haben. Außerdem soll vermieden werden, dass die Teilnehmer das Kind genervt von der eigenen Mama betreuen lassen. Das ist ja gerade nicht Sinn der Sache. Was auch stresst: Ein Smartphone in der Nähe des Babysimulators verursacht  Störgeräusche. Also: weg damit! Denn auch als echte Mama kann man nicht dauernd mit der Hand am Smartphone sein Baby versorgen. Die Aufmerksamkeit soll dem Baby gehören.

Zudem lernen die Teilnehmer nicht nur die Belastungen kennen, sondern werden auch aufgeklärt über Schütteltrauma sowie die Gefahren von Alkohol, Rauchen und Drogenkonsum in der Schwangerschaft. Es ist also auch ein Programm, das   Kindesvernachlässigung und Missbrauch verhindern helfen soll.

Nimmerrichter-Morscheck beobachtet immer wieder, wie diese Projektwoche auch weiter wirkt. Die Mädchen kommen ins Gespräch mit Eltern und Freunden, machen sich Gedanken über ihr Leben, hinterfragen manch kurzsichtige Sichtweise, erkennen, dass so ein Baby auch eine Partnerschaft belasten kann. Als Multiplikatoren tragen sie das Erlebte und Gelernte bestenfalls noch in ihre Schule, ihren Freundeskreis.

„Als das Baby in der Straßenbahn geschrien hat, war mir das schon ein bisschen peinlich“, erzählt Celina. Zumal die ältere Dame, die neben ihr saß, das vermeintliche Baby als Puppe erkannte als Celina es auf den Arm nahm. Aber nachdem sie der Dame alles erklärt hatte, „war sie ganz nett“. Es ist eben wie im echten Leben: So ein Baby kann nicht daheim bleiben, wenn Mama zum Zahnarzt muss oder unbedingt die Reitstunde nicht versäumen will. „Unsere Mädchen machen das aber immer recht gut. Die Simulatoren registrieren ja die Versorgung, sie liegt zwischen 85 und ganz tollen 100 Prozent.“ Fehlende Kopfstütze wurde schon mal aufgezeichnet, Schütteltrauma sehr selten. Die Simulatoren können unterschiedlich programmiert werden, „wir wählen immer mittelschwere Programme, echte Schreibabys wollen wir niemandem zumuten“. Am Ende gibt’s eine Auswertung samt ausführlichem Abschlussgespräch.

Zwölf bis 16 Projekte mit zehn Babysimulatoren betreut der Sozialdienst im Jahr. Die Liste der Schulen, mit denen in Braunschweig und Wolfenbüttel kooperiert wird, ist lang. Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse. Gefördert wird das Projekt unter anderem von der Richard Borek Stiftung sowie der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.

Mehr unter www.skf-braunschweig.de

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