Zorges Glockenturm glänzt wieder in der Frühlingssonne
Schwierige Sanierung mit dem Einbau einer neuen Glocke war nur über die Errichtung einer eigenen Seilbahn möglich.
Die Sicht auf den Glockenturm hoch über Zorge, dem Wahrzeichen des zur Gemeinde Walkenried im Harz gehörenden Ortes, ist nach langer Einschalung wieder frei. Die Sanierung der vor mehr als 150 Jahren errichteten Konstruktion wurde abgeschlossen. Holzfäule und Holzschädlinge, die bei einer Verkehrssicherungsüberprüfung 2019 moniert worden waren und Anlass zu großer Sorge gaben, sind verschwunden. Der Turm, seit 1934 im Vermögen der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, glänzt wieder wie neu in der strahlenden Frühlingssonne.
Der Fachwerkbau datiert aus dem Jahr 1853 und wurde vermutlich nach Plänen des Braunschweigischen Hofbaumeisters Carl Theodor Ottmer errichtet. Das Bauwerk gilt als ortsbildprägend und ist als sogenanntes Einzeldenkmal geschützt. Im Zuge der Restaurierung des Glockenturms wurde auch festgestellt, dass Lufteinschlüsse im Eisenguss der großen Glocke bereits Rost angesetzt hatten. So musste auch sie ersetzt werden. Die Gemeinde entschied jedoch, keine neue Glocke gießen zu lassen, sondern eine „gebrauchte“ aus Finnland zu kaufen.
60 Meter Höhenunterschied
Die Gemeinde in Tikkurila, wenige Kilometer nördlich vom Stadtzentrum von Helsinki, hatte 1969 die Glockengießerei Pfundner in Wien mit dem Guss eines Geläuts für ihren neu errichteten Glockenturm beauftragt. Im Dezember 2012 wurde die Kirche jedoch abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. So war die gegossene Glocke überflüssig geworden. Ein Sammler verwahrte die große Glocke, bis sie in Zorge ihren neuen Standort bekam.
Die Sanierung des Glockenturms gestaltete sich ausgesprochen schwierig. Denn das Baummaterial konnte nicht über den einzigen Zugang, einem schmalen Trampelpfad mit 190 Stufen, nach oben transportiert werden. Und schon gar nicht die Bronzeglocke aus Finnland. Die Lösung der Transportschwierigkeiten war letztlich eine eigens errichtete Seilbahn. Sie überbrückte die Distanz von 130 Metern und einen Höhenunterschied von 60 Metern.
Bei einer Taufe am 20. Juli 1661 wurde in Zorge das Läuten einer neu gegossenen Glocke erstmals bezeugt – doch vermutlich war es nicht die erste Glocke der Gemeinde. Im 17. Jahrhundert hingen sie noch in einer Kapelle. Die Bergleute wurden dereinst jeden Morgen mit Gebet und Glockengeläut in ihre Schicht in die Stollen verabschiedet.
Einst wichtiger Industriestandort
Durch den Bergbau und die Eisenhütte entwickelte sich der Ort 1570 zum wichtigsten Industriestandort des ehemaligen Herzogtums Braunschweig. Beide Wirtschaftsbereiche prägten Zorge bis Ende des 19. Jahrhunderts. Die Staatsbahn Braunschweig 1842 hatte die ersten beiden in Deutschland von staatlicher Seite in Auftrag gegebenen Dampf-Lokomotiven in Zorge produzieren lassen. Insgesamt wurden dort sechs gefertigt. Auch die Eisenplatten für den Obelisken auf dem Löwenwall in Braunschweig, der 1823 zu Ehren der im Kampf gegen Napoleon gefallenen Herzöge Karl Wilhelm Ferdinand und Friedrich Wilhelm errichtet wurde, stammen aus Zorge. Über die Industriegeschichte des Ortes informiert heute ein Heimatmuseum (www.museum-zorge.de)
Zorge, an dem gleichnamigen Flüsschen gelegen, ist ein langgestrecktes Straßendorf mit knapp 1000 Einwohnern. Auf einem der acht von hier ausgehenden Wanderwege – die meisten bieten wundervolle Ausblicke – läuft man streckenweise entlang des „Todesstreifens“, der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Zorge ist der südöstlichste Zipfel Niedersachsens und liegt im Drei-Länder-Dreieck zu Thüringen und Sachsen-Anhalt. Ein touristischer Ausflug bietet sich also nicht nur wegen des außergewöhnlichen Glockenturms an.